Novemberasche
ihre Aussage ist zu vage. Die
Schulleiterin aus Salem. Viktoria. Sie sind der Ansicht, dass der Junge andere gemobbt habe. Dann die andere Seite: Die Eltern,
die meisten Schüler, die Leute aus dem Karateclub, die das Bild eines fleißigen und pflichtbewussten Schülers …« Das Telefon läutete.
»Sommerkorn.«
Barbara ging zur Tür.
»Was? Und die Eltern?«
Auf der Schwelle drehte sich Barbara zu ihm um. Sie sah ihn nicken, er sah ernst aus und eine Spur bleicher als zuvor.
»… werden sie aufsuchen … im Krankenhaus, sagen Sie?«
Barbara beobachtete, wie er auflegte und den Hörer noch eine Weile festhielt, bevor er zu ihr aufblickte.
»Das war Frau Bärlach. Leanders Freund, Matthias Wölfle, hätte heute eine wichtige Klausur nachschreiben sollen, ist aber
nicht erschienen. Frau Bärlach wollte bei der Mutter anrufen, um sich nach seinem Verbleib zu erkundigen, hat sie aber nicht
erreicht. Sabine Wölfle heißt sie und arbeitet im Krankenhaus. Frau Bärlach hat gefragt, ob wir es nicht einmal versuchen
könnten … Sie ist ziemlich nervös, nach allem, was passiert ist.«
»Vielleicht macht er einfach blau.« Man sah Barbara an, dass sie selbst nicht recht glauben wollte, was sie dasagte. Wie um sich zu überzeugen, fuhr sie fort: »Ich erinnere mich noch gut an den Jungen. Er hat nicht den besten Eindruck
bei mir hinterlassen. Es muss nichts heißen, wenn er mal fehlt.«
»Natürlich nicht. Normalerweise. Aber was ist hier noch normal.«
☺
Dieser Irre hat voll auf den Türken draufgehalten, und ich bin sicher, dass es Absicht war. Der Mann hat entsetzlich geschrien,
und ich wollte zurücklaufen und ihm helfen, aber ER hat mich am Ärmel gepackt und gesagt: Bist du bekloppt, Mann, dann bist
du doch dran! Ich kann nur noch daran denken, wie der Mann geschrien hat, und ich hoffe und bete, dass ihm jemand geholfen
hat. Ich habe Angst, dass er es nicht geschafft hat.
*
Es dämmerte bereits, als Marie den Wagen auf dem Besucherparkplatz der Klinik Weißenau abstellte. Einen Moment blieb sie wie
in Trance hinter dem Steuer sitzen und sah in den grauen Wintertag hinaus. Wie ist das alles möglich, fragte sie sich und
spürte, wie Zorn in ihr aufstieg. Es ist noch keine vier Wochen her, da lebte Paula in der wohlgeordneten Struktur ihres Hausfrauendaseins,
in beträchtlichem Wohlstand mit einem Mann, von dem sie fest glaubte, dass er ihr treu ergeben war. Und nun ist alles anders,
dachte Marie. Nun besuche ich meine Freundin in der Weißenau, um sie zu fragen, was mit der Asche ihres Mannes geschehen soll.
Eine Bewegung neben ihr ließ Marie auffahren. Ein Mann mit einer Mütze stieg in ein Auto, startete den Motor und fuhr davon.
Marie schaltete die Scheinwerfer aus, löste den Gurt und stieg aus. Kaltfeuchte Luft schlug ihr entgegen, und sie langte nach
ihrem Schal auf dem Beifahrersitz. Sie schlang ihn um, griff nach dem Rucksack und machte sich auf den Weg. Flüchtig dachte
sie daran, wie froh sie war, dass heute alles gut geklappt hatte, als sie die Mädchen im Kindergarten abgegeben hatte. Keine
der beiden hatte geweint. Sie hatten sich gleich an den runden Tisch gesetzt und angefangen, ihr Vesper auszupacken.
An dem Pförtnerhäuschen stand eine Übersichtstafel, vor der sie stehen blieb und die sie nach dem Gebäude absuchte, in dem
Paula untergebracht war. Dort, etwa in der Mitte des Geländes, erblickte sie die Aufnahmestation I. Marie ging um die Tafel herum, warf einen Blick in das Pförtnerhäuschen, aber die Frau darin schien sich nicht für sie zu
interessieren. Maries Schritte hallten auf dem Asphalt, als sie unter den blattlosen Ästen ihren Weg fortsetzte.
Waren alle Männer so? Verlogen, feige und notorisch untreu, immer auf der Lauer nach der nächsten Gelegenheit. Sie selbst
konnte davon ja ein Lied singen. Wie viele Jahre hatte sie sich das von Lorenz, dem Herrlichen, bieten lassen. Keine Frau
konnte seinem Dreitagebart, den angegrauten Schläfen und der Föhnfrisur widerstehen. Jahrelang hatte sie stillgehalten und
war in ihrem tiefsten Innern überzeugt gewesen, dass er für sie einfach zu gut aussah. Lorenz, der legere Künstlertyp mit
dem versonnenen Rancherblick. Und weil ich das glaubte, bekam ich im Grunde genau das, was mir zustand: eine Rolle als Nebendarstellerin
in Lorenz’ Leben.
Sie schritt rasch aus und sah flüchtig auf den großen gelben Bau, der rechts vom Weg lag. Das Gebäude sah
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