Novemberasche
vor, dann entdeckte sie einen Stuhl am Fenster,
holte ihn und setzte sich neben das Bett. Sie beugte sich über Paula, fasste die Freundin an der Schulter und sagte nur sanft:
»He.« Und Paula reagierte mit der Andeutung eines Lächelns, das unendlich traurig war.
»Ich bring dir tausend Küsse von den Kleinen. Und das hier.« Marie öffnete ihren Rucksack, zog zwei zusammengerollte Blätter
heraus und zeigte Paula erst das von Leni. »Rapunzel in ihrem Turm. Und das hier«, Marie deutete auf etwas Wildes, Grünes
im rechten Bereich des Bildes, »sind die Rapunzeln, also der Feldsalat. Und das ist das Haar.« Der Zopf, der eher aussah wie
eine dicke gelbe Wurst, hing aus einem schiefen Fenster bis auf die Erde. »Und das«, Marie rollte das zweite Bild auf, »bist
du. Auf einer Blumenwiese. Mit Anna und Leni.« Paula griff nach dem Bild und betrachtete es. Marie sah, wie Paulas Augen sich
mit Tränen füllten und wie die Tränen über die Wangen liefen, einfach so. Paula sprach kein einziges Wort. Marie spürte, wie
ihr selbst ein Kloß im Hals saß, räusperte sich und sagte schließlich: »Alles wird wieder gut. Du kommst hier heraus, und
dann packen wir das gemeinsam an. Du hast doch mich. Und Andreas.« Paula ließ das Blattsinken, nickte. Wie eine Ertrinkende, die sich an ein dürres Geäst klammert, dachte Marie. Sie kramte erneut in ihrem Rucksack,
holte eine Packung Taschentücher heraus und gab Paula eines. Paula nahm es, schnäuzte sich und setzte sich schließlich umständlich
im Bett auf. Eine Weile schwiegen sie.
»Es ist, als hätte mich jemand aus einem Bild ausgeschnitten, aus dem Bild meines Lebens. Es ist alles fort, ich bin fort,
weg von allem. Er ist tot, das Haus ist weg, das Geld auch.« Paula sprach ganz leise und seltsam ruhig.
Marie sah sie an und nickte langsam. Es hatte sicher schon Leute gegeben, die wegen weniger umgekippt waren. Und dennoch:
Paula musste eine Entscheidung treffen.
»Paula … dein Bruder sagt …« Marie verstummte. Sie sah aus dem Fenster. »Hast du dir schon überlegt, wo das Grab sein soll? Ich meine … Wir würden uns drum kümmern, dein Bruder und ich.«
Paula reagierte nicht.
»Schachen ist vielleicht zu weit, weil ihr da doch gar nicht mehr wohnt.« Marie fühlte sich unbehaglicher denn je. Vielleicht
sollte sie das doch lieber Sommerkorn überlassen.
»Was spielt denn das für eine Rolle, was mit der Asche dieses Lügners geschieht?«
Marie erstarrte. Und wieder verfielen beide in Schweigen. Sie konnte es immer noch nicht glauben. Erik und Paula waren ihr
wie ein aus Stein gehauenes Denkmal erschienen, das Idealbild einer Ehe. Szenen tauchten wie Fotos in ihrem Kopf auf: Erik,
der sich über Paula beugt, sie auf den Kopf küsst, die liebevollen Gesten beim Verabschieden. In all ihrem Gebaren hatte eine
tief empfundene Zärtlichkeit für den anderen gelegen. Ihr Umgang miteinander hatte nichts von dem auffälligen Gehabe mancher
Paare an sich gehabt. Sie hatte erlebt, wie viele dieseraffektierten Pärchen im Laufe der Zeit getrennte Wege gegangen waren. Ganz anders Paula und Erik. Marie hatte die Beziehung
der beiden keine Sekunde in Zweifel gezogen. Wie hatte sie sich nur so täuschen können?
Ihr Blick huschte zurück zu Paula, die in sich zusammengesackt an der Wand lehnte, die verbundenen Hände lagen ruhig in ihrem
Schoß. Sie hatte die Augen geschlossen, und Marie betrachtete die Freundin, die sich in den letzten Tagen so sehr verändert
hatte. Das strähnige Haar, das platt am Kopf anlag; der dunkle Haaransatz, der sich hart von den blondierten Strähnen abhob;
die Blässe, die etwas Graues, Krankes hatte; die Schatten unter den Augen; die Linien um den Mund, die sich tiefer eingegraben
hatten.
Und wenn nicht?, schoss es Marie plötzlich durch den Kopf. Wenn ich mich gar nicht getäuscht habe? Woher wollen wir denn wissen,
wie es wirklich war? Immerhin ist es möglich, dass Erik mit dieser Frau nur eine kurze Affäre gehabt hatte. Oder noch nicht
einmal das. Vielleicht ist es passiert, ein einziges Mal, und Erik – als anständiger Kerl – hat die Konsequenzen in Form von
Unterhaltszahlungen und der Lebensversicherung auf sich genommen, ohne dass da noch etwas gewesen war zwischen ihm und dieser
Stella. Die Lebensversicherung war schließlich auf das Kind ausgestellt, und nicht auf die Frau. Wenngleich, das musste Marie
zugeben, das in diesem Alter wohl kaum eine Rolle
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