Novemberasche
spielte.
Wieder betrachtete sie Paula, die geschlossenen Lider, den vergrämten Ausdruck um ihren Mund. Eriks Tod war die Katastrophe,
die in Paulas Leben hereingebrochen war. Den geliebten Menschen zu verlieren, den, an dessen Seite man gehofft, ja fest geglaubt
hatte, alt zu werden. Ohne Heim und ohne Geld dazustehen, das würde wahrlich den Stärksten umhauen. Doch je mehr Marie darüber
nachgrübelte, desto stärker wurde ihre Überzeugung, dassdas größte Unglück, der größte Schmerz durch den Verrat verursacht wurde. Weil ihr so noch nicht einmal die Erinnerung blieb.
Sie erhob sich, der Stuhl scharrte über den Boden. Es war dämmrig im Zimmer, aber keine der beiden dachte daran, das Licht
anzuknipsen. Marie trat ans Fenster und sah hinaus in die graue Welt, die trist und tröstlich zugleich dalag. Einzig der Schein
einer Laterne verbreitete ein milchiges, unwirkliches Licht.
Noch nicht einmal die Erinnerung an schöne Tage, dachte Marie voll Bitterkeit, das ist das Perfide daran. Mit einem Schlag
wird dein altes Leben ausgelöscht und die Erinnerung an die guten Tage gleich mit zerstört. Denn über allem schwebt der Pestilenzgeruch
des Zweifels. Und wenn ich beweisen könnte, dass es keine Lüge war? Dass es für Erik eine einmalige Sache war, dass er nicht,
wie Paula glaubt, ein zweites Leben hatte. Jeder Mensch macht Fehler, hat schwache Momente, tut Dinge, die er mehr als alles
andere bereut.
Sie holte tief Luft und drehte sich zu Paula um, deren Gesicht im Dunkeln verborgen war. Plötzlich wusste Marie, was sie tun
würde. Wenn es eine Möglichkeit gab, Paula zu helfen, dann diese: Sie würde herausfinden, wer diese Frau war. Sie würde herausfinden,
wie nahe sie und Erik sich gestanden hatten. Sie würde herausfinden, ob es ein zweites Leben gegeben hatte.
*
Sommerkorn war nicht sehr erpicht darauf, ins Krankenhaus zu fahren, aber da alle Kollegen unterwegs waren und jemand mit
Matthias’ Mutter sprechen musste, hatte er keine gute Ausrede, es nicht zu tun.
Sommerkorn mochte Krankenhäuser nicht. Immer, wenner sich selbst unter Beweis stellen konnte, dass das ja alles nicht so schlimm war und dass das würgende Unwohlsein nun endgültig
verschwunden war, entzog er sich im letzten Moment. Krankenhäuser bedeuteten für ihn Tod und Elend. Zumindest seit jenem Tag
im Mai vor dreiundzwanzig Jahren. Aber das war ein Kapitel seines Lebens, das er gut unter Verschluss zu halten wusste. Dabei
war es noch gar nicht so lange her, dass er den Alten im Krankenhaus besucht hatte, dachte er und bog links am Wald ab in
die Zufahrtsstraße zum Krankenhaus. Er ließ den Besucherparkplatz rechts liegen und näherte sich dem Vorplatz. Was ist denn
hier passiert, schoss es ihm durch den Kopf. Man erkennt ja nichts wieder. Eine Baustelle, eine wüste Kraterlandschaft aus
Erdhügeln, Löchern und Wällen.
Sommerkorn war kein Freund von Veränderungen und führte selbst selten eine herbei. Die letzte Umwälzung in seinem Leben war
ohne sein Zutun über ihn hereingebrochen. Damals hatte seine Frau ihn verlassen und war mit Sack und Pack – und dem gemeinsamen
Sohn – gegangen, um sich mit dem anderen ein neues Leben aufzubauen. Sommerkorn war daraufhin gezwungen gewesen, das eheliche
Reihenhaus aufzugeben und sich eine neue, bezahlbare Bleibe zu suchen. Schließlich war er in einem Wohnsilo in der Kitzenwiese,
Friedrichhafens berüchtigter Wohngegend gelandet, wo er sich alles andere als wohlfühlte. Doch da er rasche Veränderungen
eben nicht mochte, lebte er nun bereits das vierte Jahr in einem Zweizimmerapartment, das an den sozialen Wohnungsbau der
DDR erinnerte und dessen einzige positive Eigenschaft die Nähe zum Wald war, die Sommerkorn allerdings fast vier Jahre lang
beharrlich ignoriert hatte. Erst vor einigen Wochen, als ihn unerklärliche Müdigkeitsphasen heimgesucht hatten und er am Steuer
seines Wagens fast in denGegenverkehr gerast war, hatte er den Wald für sich entdeckt und begonnen, erste Laufrunden zu drehen. Vielleicht hatte dieser
wiedererwachte Bewegungsdrang ja auch ganz andere Gründe, und er wollte seinen in Taillenhöhe ein wenig aus dem Leim geratenen
Körper wieder in »Shape« bringen, wie Barbara es albernerweise formulierte.
Wie vorauszusagen gewesen war, waren alle Kurzzeitparkplätze vor dem Krankenhaus besetzt. Sommerkorn hätte ein Parken im Halteverbot
beim besten Willen nicht rechtfertigen können –
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