Novemberasche
sonderbare Frage, dachte Marie. Als ob man da eine Wahl hätte. »Ja.«
Gischt und Regen prasselten in einem Schwall gegen die Windschutzscheibe, als sie sich einem LKW näherten. Eva sah in den
Rückspiegel, setzte den Blinker und scherte aus.
»Würde wohl sagen: auf ihre Art.«
Marie fühlte ihr Herz schneller schlagen. Sie richtete sich innerlich auf, alle Sinne auf das konzentriert, was sie gleich
hören würde. Sie fuhren jetzt neben dem LKW, in einem Nebel aus Gischt, als plötzlich das gigantische Fahrzeug neben ihnen
die Markierung überfuhr und sich dem PKW näherte. Marie zuckte zusammen und rutschte nach links. Eva reagierte prompt, drückte
das Gaspedal durch und gleichzeitig wie wild auf die Hupe. »Dieser Idiot!«, rief sie, und sie schafften es im letzten Moment,
vorbeizukommen, bevor der Riese ganz auf ihre Spur wechselte.
Als die Gefahr vorüber war, hatte sich auch die Gelegenheit, mehr über Stella zu erfahren, verflüchtigt. Marie wagte nicht,
noch einmal auf das Thema zurückzukommen.
Ich war so nah am Ziel, so nah, dachte sie. Und nun kann ich wieder von vorne anfangen.
*
Schon von weitem sah man, dass es eine Abendveranstaltung der eleganten Art war. Die Villa, in der Marlene Kattus die Werke
von Tiffany Haushofer zeigte, war groß und alt, und das Gelände war zugeparkt mit Karossen der Marken Mercedes, Jaguar und
BMW. Sommerkorn umrundete das Zentrum seines Interesses zweimal und parkte den Landrover dann etwas weiter entfernt in einer Seitenstraße.
»Hier fühlst du dich wohler, nicht wahr, mein Freund?« Er stieg aus dem bulligen Fahrzeug aus und schlug die Tür mit einem
kräftigen Stoß zu.
Es war ein milder Dezemberabend, einer von jenen, an denen der Föhn Wolken wie Tiere über den schwarzen Himmel jagte und der
Vollmond das Spektakel wie ein Scheinwerfer beleuchtete. Der Wind zerrte an Sommerkorns Haar, und seine Schritte machten ein
gedämpftes Geräusch auf dem nassen Asphalt. Voll nervöser Vorfreude dachte er an Marie, die er heute ganz für sich haben würde.
Sommerkorn ging so gut wie nie zu Ausstellungen, und sein Verhältnis zu moderner Kunst war äußerst gespalten. Er konnte nicht
viel anfangen mit Spiegeleiern im Sturm, und auch weiße Motive auf weißem Grund entlockten ihm keinerlei Begeisterung. Doch
diesmal hatte er sich fest vorgenommen, seine Ablehnung und brummigen Kommentare für sich zu behalten und sich von Marie das
eine oder andere erklären zu lassen. Vielleicht verstand er ja tatsächlich vieles einfach nicht, wie Paula immer behauptete.
Hauptsache war, er würde mit Marie zusammen sein, dafür würde er auch ein paar Spiegeleier in Kauf nehmen.
Schon an der Tür bemerkte er, dass er definitiv underdressed war. Die Damen steckten in Kostümen, Cocktail- oder Abendkleidern
und die Herren trugen – ohne Ausnahme – schwarze Anzüge oder Smoking. Sogar die Jungenvom Partyservice hatten sich für diesen Anlass perfekt zurechtgemacht. Beim Eintreten beschlug Sommerkorns Brille. Während
er noch dastand und sie polierte und mit zusammengekniffenen Augen in die Runde schaute, spürte er eine sachte Berührung am
Arm. Marie?
»Wie schön, dass Sie kommen konnten«, hauchte eine fremde Stimme. Er setzte die Brille wieder auf und erkannte die Gastgeberin,
die in einem dunkelblauen Samtkleid steckte und ihn aus dramatisch geschminkten Augen anblickte. Ihre Schuhe waren so hoch,
dass er sich einen Moment lang fragte, wie sie es in den Dingern bis hierher geschafft hatte. Sie streckte ihm die Hand entgegen,
und Sommerkorn lächelte etwas betreten.
»Wo ist Marie? Kommt sie nicht?« Helen richtete einen fragenden Blick auf ihn.
»Doch, doch, wir sind hier verabredet.«
»Dann wird sie sicher bald eintreffen. Kommen Sie, ich möchte Ihnen Tiffany vorstellen.«
Blitzschnell hakte Helen sich bei ihm unter und führte ihn durch den Raum auf eine Frau in bodenlangem Ethno-Rock zu, die
mit zwei Männern in eine angeregte Diskussion verstrickt war.
»Tiffy, Liebste, darf ich dir einen Freund vorstellen? Das ist Tiffany Haushofer, unsere Künstlerin. Und das ist Andreas Sommerkorn,
ein echter Kriminalpolizist.«
Tiffany Haushofer, deren Haar mit einem Turban hochgebunden war, blickte Sommerkorn aus schwarz umrandeten Augen an. Sie erinnerte
ihn an jemanden aus den Siebzigerjahren, aber an wen?
»Freut mich, dass auch die Exekutive sich für Kunst interessiert.« Ihr Tonfall war schleppend und sie
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