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Novemberasche

Titel: Novemberasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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doch. Jedes Mal, wenn ich mich umgedreht habe, haben
     sie mich angesehen.
     
    *
     
    Es hatte wieder zu regnen begonnen, ein feiner Nieselregen, und die Welt draußen war hinter einem Schleier aus Wasserschlieren
     und Dunst verborgen. Die Scheibenwischer von Evas kleinem Wagen bewegten sich rhythmisch hin und her, und Marie hatte Mühe,
     sich ihrer hypnotischenWirkung zu entziehen. Sie war so unendlich müde. Die Angst vor einem neuen Sprung war einer maßlosen Erleichterung gewichen.
     Das Wetter hatte für sie entschieden. Für heute war der Sprungbetrieb eingestellt worden. Sie hatten ein paar Trockenübungen
     absolviert, Check-in, Check-out, hatten in einem Gurt gehangen und das Ziehen trainiert, waren in der Halle herumgestanden
     und hatten auf eine Wetterbesserung gewartet. Später waren sie zu Maries höchstem Glück unverrichteter Dinge wieder abgefahren.
     Dennoch war sie knapp dran und hatte Sommerkorn von Leutkirch aus angerufen und gesagt, sie würde sich etwas verspäten, er
     solle allein hinfahren, und sie würden sich dann in der Galerie treffen. Im ersten Moment hatte Marie sich über die Verspätung
     geärgert, doch dann hatte eine glückliche Fügung es gewollt, dass Eva und sie auf dem Rückweg allein im Wagen saßen, ohne
     Stella, und Maries Laune hatte sich schlagartig gebessert. So hatte Marie endlich wieder Gelegenheit, zu ihrem Thema zurückzukehren.
    Während sie noch krampfhaft überlegte, wie sie das Gespräch elegant und unauffällig auf Stella und Cheyenne lenken konnte,
     hörte sie sich schon selbst sagen: »Die kleine Cheyenne ist ja wirklich ein pflegeleichtes Kind. Sie turnt da zwischen den
     Springern und Schirmen herum, als gehöre sie zum Inventar.«
    »Tut sie ja auch. Stella bringt sie jedes Mal mit. Und jedes Mal findet sich auch jemand, der auf die Kleine aufpasst, während
     Stella springt.«
    »Es ist schön, dass ihr alle so zusammenhaltet. Und du passt ja auch immer wieder mal auf Cheyenne auf. Zu Hause, meine ich.
     Da hat Stella ein bisschen mehr Zeit für sich.« Marie sah hinüber zu Eva, die Maries Blick gleichgültig erwiderte.
    »Das Thema scheint dir ja mächtig zu imponieren.«
    Marie spürte, wie eine heiße Röte ihre Wangen überzog, und senkte das Gesicht leicht, so dass die Locken ihr Profil verdeckten.
    »Das tut es. Aber ich weiß auch ein bisschen, wovon ich spreche. Diese Freundin von mir, die allein Erziehende, von der ich
     dir erzählt habe, hat das früher fast nicht gepackt.«
    Marie sandte ein Stoßgebet zum Himmel und hoffte, dass all die Lügen, die sie in den letzten Tagen verbreitet hatte, ihr verziehen
     würden, da doch der Zweck die Mittel heiligte. So war es doch? Sie staunte darüber, wie leicht ihr all diese Halb- und Unwahrheiten
     mittlerweile über die Lippen kamen, ja, sie hatte darin nahezu eine Eleganz, eine Routine entwickelt, die sie von sich nicht
     erwartet hätte.
    »Irgendwie wird das auch überbewertet.« Eva stellte den Scheibenwischer eine Stufe schneller.
    »Wie meinst du das?«
    »Ich meine das so, wie ich es sage. So viele dieser Mütter jammern herum. Aber letztlich bringt ihnen das Kind doch auch eine
     Menge Freude.«
    Evas Stimme klang scharf. Marie betrachtete sie von der Seite. Das ebenmäßige Profil, die gerade Nase, die vollen Lippen.
     Eva ist eine so schöne Frau, ging es Marie durch den Sinn.
    »Klar. Aber wenn man alleine ist, dann geht es doch unweigerlich um die Frage Zeit oder Geld. Du brauchst Geld, also musst
     du arbeiten gehen, also hast du weniger Zeit für das Kind. Und wenn’s dann mal krank ist, wird’s noch schwieriger. Wie schafft
     Stella das nur? Besonders jetzt   … da Cheyennes Vater doch tot ist.« So, jetzt war’s heraus. Direkt und unverblümt. Vorsichtig linste Marie zu Eva hinüber.
     Eine Pause entstand.
    »Das weißt du?«, fragte Eva nach einer Weile. »Wer hat es dir denn erzählt?«
    »Ich weiß gar nicht mehr   … Ron, glaube ich.«
    Evas Miene blieb unbeweglich, als sie sagte: »Ron quatscht ein bisschen viel.« Dann schien sie sich zu besinnen und fuhr etwas
     freundlicher fort: »Wir wollten das eigentlich nicht an die große Glocke hängen.«
    Marie nickte. »Wie verkraftet Stella das denn alles?«, fragte sie.
    »Erst mal war das natürlich unfassbar. Und dabei ging es in der Tat auch ums Geld. Er war sehr zuverlässig, was die Unterhaltszahlungen
     anging.«
    »Na ja, das ist das eine. Aber wie geht es ihr?«
    »Du meinst, ob sie trauert?«
    Was für eine

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