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Novemberasche

Titel: Novemberasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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die vielleicht niemals ein
     Ergebnis zeitigen werden. Aber nein. Sie hatte das Gefühl, dass es da etwas zu entdecken gab, auch zwischen den Fallschirmspringern
     glaubte sie eine Spannung gespürt zu haben. Rons Worte waren ja auch nur allzu deutlich gewesen. Er hatte Stella als kalt
     und berechnend dargestellt. Aber war sie das? Marie selbst konnte das nicht bestätigen. Und nun würde sie Sommerkorn gleich
     wiedersehen. Sie sah sein Gesicht vor sich, seine Augen, dunkel und unergründlich, seinen Mund und – ja, diesen besonderen
     Blick, mit dem er sie manchmal betrachtete. Einen Moment lang war sie bereit, alle Bedenken über Bord zu werfen, und wünschte
     sich einfach nur, von ihm berührt zu werden und mit ihm in einer einzigen großen Umarmung zu verschmelzen.
    Im Näherkommen bemerkte sie die Wagen, und ein mulmiges Gefühl in puncto Kleiderordnung beschlich sie. Natürlich hätte sie
     sich gerne noch geduscht und umgezogen. Aber dafür war keine Zeit mehr gewesen. Eva hatte sie an einer Bushaltestelle abgesetzt
     – sich nach Hause fahrenzu lassen, war Marie zu riskant erschienen. Also war sie nach Hause gehetzt, in einen grauen Mohairpullover mit überdimensionalem
     Rollkragen geschlüpft, hatte die Kette mit den dicken grünen Glasperlen aus der Schublade geholt, umgehängt und war losgeeilt.
     Vor dem Spiegel auf dem Katamaran war sie kurz stehen geblieben, war sich mit allen zehn Fingern durchs Haar gefahren und
     hatte – als sich ihr Spiegelbild weder verbesserte noch irgendwie sonst veränderte – mit den Schultern gezuckt und war schließlich
     von Bord gegangen. Der Anblick ihres brutal gestutzten Haares bedrückte sie immer noch. Im letzten November, als sie in die
     Fänge dieses Psychopathen geraten war, hatte sie ihr bis dahin fast hüftlanges lockiges Haar verloren, mit einem einzigen
     Schnitt.
    Als Marie ihre Einladung vorzeigte, dachte sie kurz daran, dass Helen die Kleiderordnung für diesen Abend hätte erwähnen können.
     Beim Anblick der Gäste musste Marie schlucken. Das war es eigentlich nicht, was sie nach einem langen und anstrengenden Tag
     brauchte. Es wäre schöner gewesen, sich mit Sommerkorn in einer kleinen Pizzeria bei Wein und Kerzenschein zu treffen.
    Sie betrat das Foyer und sofort wurde sie von wohliger Wärme umhüllt. Mit ihrem Mantel in der Hand blieb sie eine Weile stehen
     und ließ den Blick schweifen auf der Suche nach dem vertrauten Anblick. Sommerkorn, der alle anderen überragen und mit seiner
     Brille auf der Nase und einem belustigten Funkeln in den dunklen Augen die Szenerie betrachten würde. Bestimmt trägt er wieder
     den grauen Tweedmantel, der ihm so gut steht, dachte sie. Die passende Schulter zum Anlehnen. Ein bisschen wie Rock Hudson
     in
Pillow Talk
, nur mit Brille. Sie musste lächeln.
    Da sie ihn nicht erblickte, gab sie Mantel und Tasche an der Garderobe ab und mischte sich unter die Gäste.
    Vor einigen Bildern blieb sie kurz stehen und warf einenflüchtigen Blick darauf. Vielleicht hatte auch er sich verspätet, obgleich das gar nicht seiner Art entsprach. Eine Frau mit
     einem Turban und einem bunten Patchwork-Rock, die sie an Frida Kahlo erinnerte, kreuzte ihren Blick und lächelte ihr zu, doch
     Marie ging weiter, in Richtung des angrenzenden Raumes. Dann sah sie ihn. Er stand in einer Ecke vor einem Bild mit einer
     Torte. Dicht bei ihm stand Helen, einen guten Kopf kleiner als er, und hatte sich bei ihm untergehakt. Marie starrte zu ihnen
     hinüber, völlig überrumpelt. So vertraut, dachte sie. Die beiden wirken so vertraut, als seien sie ein Paar. Helen lachte
     und redete, und Sommerkorn sah sie konzentriert und aufmerksam an.
    Marie fühlte Übelkeit in sich aufsteigen, ein dumpfer Druck im Magen, als hätte ihr jemand die Faust hineingerammt. Alles
     wiederholt sich, dachte sie, immer dieselbe Szene. Lorenz der Herrliche, seines Zeichens Frauenschwarm und Held zahlreicher
     Studentinnen – sie sah ihn plötzlich vor sich. Wie lange hatte sie damals zugesehen, passiv das Schauspiel betrachtet, das
     Lorenz gab. Die Darstellerinnen wechselten, der Protagonist war immer derselbe. Und das Publikum auch: sie, Marie. Sie musste
     weg hier, raus, allein sein und in die Dunkelheit eintauchen, wo niemand ihre brennenden Wangen oder gar ihre Tränen sah.
     Sie wollte sich gerade abwenden, da blickte Sommerkorn auf und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
    Fünf Minuten später stand sie neben Sommerkorn und hielt

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