Novemberasche
sich an einem Sektglas fest, den Blick auf Marlene Kattus gerichtet,
die in ihrer Rede zur Eröffnung der Ausstellung gerade über die extraordinäre Expressivität in Tiffany Haushofers gegenständlichem
Werk sprach. Also war die Frau mit dem Turban, die auf Frida Kahlo machte, die Künstlerin. Maries Gedanken schweiften ab,
die Worte zogen an ihr vorüber wie Spruchbänder. Mit sinnlosenPhrasen, die sie nicht einordnen konnte. Am liebsten wäre sie jetzt zu Hause bei den Kleinen. Würde neben ihnen auf dem Boden
sitzen und Barbies an- und ausziehen und mit dem Barbiemobil eine Runde durchs Kinderzimmer drehen. Aber ohne Ken.
Sie spürte, wie sich ihre Kiefermuskulatur anspannte. Dann erst bemerkte sie einen Blick auf sich und sah, dass Sommerkorn
sie von der Seite betrachtete. Soll er doch ansehen, wen er will, dachte sie und wandte trotzig den Blick ab. Warum hatte
sie just in diesem Moment den Raum betreten? Andererseits, dachte sie und stellte sich noch ein wenig aufrechter hin, soll
das eben so sein. Es soll so sein, um mir die Augen zu öffnen und mir zu zeigen, was ich in meiner gegenwärtigen Lebenslage
nicht gebrauchen kann und nie wieder brauchen werde. Sie streckte den Rücken durch und hob das Kinn ein wenig höher. Nein,
dachte Marie grimmig, die Zeiten, sich von einem Mann an der Nase herumführen zu lassen, sind vorbei. Niemand wird mich je
wieder täuschen, und wenn ich dafür auf eine Insel ziehen muss.
Etwas verspätet merkte Marie, dass alle zu klatschen begonnen hatten, und bemühte sich, es ihnen gleichzutun, was sich schwierig
gestaltete, da sie immer noch das Sektglas in der Hand hielt. Jetzt trat Tiffany Haushofer an das Rednerpult, bedankte sich
artig bei allen möglichen Leuten und fing an, von ihrem künstlerischen Werdegang zu sprechen. Als sie die Kunstakademie in
München erwähnte, an der Marie studiert hatte und an der Lorenz noch immer unterrichtete, horchte Marie kurz auf. Tiffany
Haushofer hatte ein Gastsemester in München verbracht. Marie betrachtete sie genauer. Sie mochte etwas älter sein als sie
selbst, vielleicht Anfang bis Mitte vierzig. Sie muss Lorenz kennen, schoss es ihr durch den Kopf. Sie würde sich nachher
einmal mit ihr unterhalten.
Wieder applaudierten alle, und Musik setzte ein. Eine üppige Dame sang zu einem Kontrabass, eine eigenwillige, aber schöne
Klangmischung. Als die Musik verklungen war, löste sich die große Gruppe von Zuschauern in viele kleine Grüppchen auf. Sommerkorn
wandte sich Marie zu.
»Du hättest mir Bescheid geben können, ich hätte dich an der Anlegestelle abgeholt.« Er lächelte gewinnend.
»Nächstes Mal«, beschied Marie und sah ostentativ an ihm vorbei.
»Hast du eine Idee, wo wir nachher was trinken gehen können?«
»Nein.«
»Vielleicht in der Innenstadt?«
Marie zuckte die Achseln. In dem Moment trat Helen an ihre Seite.
»Halloooo, schön, dass Sie kommen konnten.«
Helen blickte Marie mit einem strahlenden Lächeln an. Marie bemerkte, dass der dunkelviolette Samt ihres Kleides genau die
Farbe ihrer Augen hatte und dass Marie trotz Helens hochhackigen Schuhen immer noch auf sie hinuntersehen konnte. Sie gehörte
zu jener Sorte Frau, neben der Marie sich schon immer wie ein Bauerntölpel gefühlt hatte. Dass Marie jetzt in ihren derben
braunen Lederstiefeln dastand, total verschwitzt unter ihrem Mohairpullover, trug nicht gerade dazu bei, sich femininer zu
fühlen. War nicht das Rehlein auch so ein Typ gewesen, Lorenz’ letzte
Dame de Cœur
?
»Haben Sie die Künstlerin schon kennengelernt?«
»Nein«, antwortete Marie knapp.
»Dann kommen Sie.«
Helen hakte sich bei Marie ein und führte sie mit sanftem Druck zu Tiffany Haushofer, was Marie das Gefühl vermittelte, ein
unter Kontaktarmut leidender Trampel zusein, der dringend Nachhilfe in Sachen Sozialkompetenz nötig hatte.
Tiffany Haushofer – »Bitte nenn mich doch Tiffy« – stellte sich als sympathische und unkomplizierte Gesprächspartnerin heraus,
die erstaunlich wenig mit ihren zum Teil düsteren Motiven gemein zu haben schien. Als Tiffy hörte, dass Marie eine Malerkollegin
war und mit ihren Werken Marlene Kattus’ nächste Ausstellung bestreiten würde, tauschten sie Adressen aus und versprachen,
sich demnächst gegenseitig zu besuchen. Einen Moment lang fühlte sich Marie gut, ja beschwingt. Dieses Gefühl verschwand abrupt,
als sie sich von Tiffy verabschiedet hatte und sich auf den Weg zu
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