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Novemberasche

Titel: Novemberasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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streckte nachlässig
     ihre Rechte aus, die Sommerkorn ergriff und die schlaff in seiner Hand lag.
    Sommerkorn lächelte höflich und murmelte: »Aber ja«,während er den Blick durch den Raum und wieder zur Tür wandern ließ. Wo blieb bloß Marie? Da hatte ihn Helen bereits wieder
     untergehakt.
    »Und genau diese Kunst werde ich Ihnen jetzt ein wenig zeigen.«
    Sommerkorn sah sich selbst nicht als Kunstbanause – immerhin gab es einen Michelangelo und einen Leonardo da Vinci, deren
     Werke ihn mit Ehrfurcht ergriffen. Doch fing sein Verständnis für Kunst bereits bei den Expressionisten zu blättern an, und
     spätestens beim Kubismus konnte er nur noch den Kopf schütteln. Mit dem Œuvre Tiffany Haushofers konnte er wenig, um nicht
     zu sagen nichts anfagen. Vor einem zwei mal zwei Meter großen Ding, bei dem es sich Sommerkorns Expertenmeinung nach um eine
     Collage handeln musste, versuchte er mit gerunzelter Stirn die Worte in den Sprechblasen zu entziffern und kam irritiert zu
     dem Schluss, dass zwischen den blümchenumrankten Satzfetzen tatsächlich die Worte »fuck« und »anal« zu lesen waren. Was ihn
     jedoch am meisten irritierte, war nicht die Grobheit dieser Sprache, sondern die für ihn völlig unverständliche Ummantelung
     derselben mit Blumengirlanden. Helen betrachtete ihn von der Seite und lächelte.
    »Die Rolle der Frau – oder wie man sie gerne hätte. Das sind die Blümchen«, erklärte sie ihm.
    »Dann stehen die Kraftausdrücke bestimmt für die Befreiung der modernen Frau aus den traditionellen Zwängen.«
    »Sie haben ein gutes Gespür für Kunst.«
    »Ein Renaissancefresko ist mir da schon lieber.« Wieder sah er sich um und behielt mit einem Auge die Tür im Blick.
    »Dann kommen Sie mich mal in Umbrien besuchen. Die Hälfte des Jahres schreibe ich in meinem Haus in Spoleto, und in der Gegend
     gibt es einige unglaubliche Fresken.«
    Sommerkorn nickte zerstreut. Wo Marie nur blieb? Wieder spürte er Helens Hand auf seinem Arm, sie führte ihn zum nächsten
     Bild. Es tat ihm fast ein wenig leid, dass er gar keinen Sinn für diese Dinge hatte. Sie gingen in den nächsten Raum. Vor
     einem Gemälde mit einer überlebensgroßen mageren Frau mit winzigen Brüsten und einer Torte mit brennenden Kerzen auf dem Kopf
     machten sie halt. Zwischen den Beinen der Gestalt kroch eine Schlange heraus. Sommerkorn verzog angewidert das Gesicht.
    »Ich glaube, ich würde gerne auf das Angebot mit den umbrischen Kirchen zurückkommen   …« Er zog eine Augenbraue hoch.
    Helen lächelte ihn an. »Dann ist das abgemacht.«
     
    *
     
    Natürlich fuhren die Busse um diese Uhrzeit im Abstand von Jahren. Sie war schließlich in der Provinz, und irgendwie musste
     sich das ja bemerkbar machen, dachte Marie bitter. Sie würde also zu spät kommen. Da sie nicht wie andere Leute im Zeitalter
     der grenzenlosen Kommunikation ständig ein Mobiltelefon mit sich führte, konnte sie Sommerkorn nicht Bescheid sagen oder ihn
     bitten, sie abzuholen. Ohne eigenes Auto war es wirklich kompliziert, zurechtzukommen, besonders jetzt, da die Mädchen bei
     ihr wohnten. Sie hatte Sommerkorn gesagt, er solle sie in der Galerie treffen – was für ein Leichtsinn! Nun blieb ihr nichts
     anderes übrig, als im Schweinsgalopp durch die ausgestorbenen Randbezirke der Stadt zu marschieren. Wenigstens war es nicht
     kalt, und es regnete auch nicht mehr. Eigentlich war es sogar ein ganz wunderbarer Abend – der Mond tauchte die Wolken in
     ein bizarres Licht, und diese gaben hin und wieder den Blick auf einen sternenübersäten Himmel frei. Marie atmete tief, sie
     schrittrasch aus, und nach einer Weile bedauerte sie es, nicht die gesamte Nacht hindurch gehen zu können, weiter und weiter, und
     die prickelnde Feuchtigkeit auf ihrem Gesicht und in ihrem Haar zu spüren. Die Frische und auch die Bewegung taten ihr gut,
     nachdem sie die restliche Fahrt neben Eva darüber nachgegrübelt hatte, wie sie die Rede am geschicktesten wieder auf Stella
     und Erik bringen konnte. Die Gelegenheit hatte sich nicht ergeben, und so war Marie mit einem vor geistiger Anstrengung dröhnenden
     Schädel aus dem Wagen gestiegen. Natürlich hatte sie auch ein schlechtes Gewissen den Mädchen gegenüber. Den Nachmittag hatten
     die beiden bei einer Kindergartenfreundin verbracht, wo sie auch übernachten durften. Die Kinder brauchen mich, dachte sie
     plötzlich. Und ich bin auf einem Flugplatz und betreibe irgendwelche dubiosen Investigationen,

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