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Novemberasche

Titel: Novemberasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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und?«
    »Die Opfer.« Sommerkorn ging zur Tafel und schrieb Leanders Name auf. Dann zog er einen Kreis darum und begann nacheinander
     andere Namen aufzulisten, die er mit je einem kurzen Strich mit dem Kreis verband.
    »Das sind die Opfer, die wir bereits kennen. Selim, Benjamin Bienzle, Viktoria etc. Wir werden uns mit allen noch einmal ausführlich
     unterhalten müssen. Dann war da nochdieser Junge. Viktoria erzählte, er sei eine Zeit lang in der Clique gewesen, bis er auf eine andere Schule wechselte. Wie
     hieß er noch gleich? Sei’s drum. Damit werden wir uns also zunächst beschäftigen. Noch Fragen?«
     
    ☺
     
    »Das ist eine kleine Gedächtnisstütze für dich, damit du daran denkst, dass alles nur schlimmer wird, wenn man den Mund nicht
     halten kann.« SIE waren das, ich kann es nicht fassen. »Damit du lernst, was mit einem Verräter passieren kann.« Sie müssen
     gesehen haben, wie Vicky mit mir gesprochen hat. Wahrscheinlich haben sie gedacht, da findet so eine Art Austausch statt.
     
    *
     
    Es war nicht Eriks Kind – das kleine Mädchen mit diesem seltsamen Indianernamen. Und es war tatsächlich nicht mehr gewesen
     als ein One-Night-Stand im Alkoholrausch. Marie hörte ihr Blut in den Ohren rauschen. Es war nicht der
ganz große Verrat
gewesen, nicht die
ganz große Lüge
. Es ist einfach geschehen, was schlimm genug war. Aber es hatte keine Bedeutung für ihn gehabt. Und für sie auch nicht. Marie
     ging, so schnell sie konnte. Über ihr berührten sich die Kronen der alten Lindenbäume wie Arme von Riesen, die links und rechts
     des Weges Spalier standen. Stellas Erzählung über Eva und ihr Schicksal hatte Marie endgültig aus dem Konzept gebracht. Marie
     knöpfte ihren Mantel auf und bog ab auf die Gruber-Insel.
    Nach dem Gespräch mit Stella war sie sofort nach Hause gefahren, auf einem alten Hollandrad, das bei jedem Pedaltritt schrummte
     und klackerte. Kaum war sie zu Hause angelangt, hatte ein Anruf von Sommerkorn sie ereilt. Ob sie die Kinder mittags vom Kindergarten
     abholenkönne, es sei dringend, er würde sie ansonsten nicht darum bitten. Er würde heute Abend kommen und sie wieder abholen, morgen
     sei ja schließlich Samstag, und er würde morgen Nachmittag mit den Kindern Paula besuchen. Später hatte er ihr seinen Landrover
     vor die Tür gestellt, war in einen Dienstwagen gestiegen und mit Barbara davongebraust. Beide hatten ernst und blass ausgesehen.
     Marie war bald in Richtung Lindau losgefahren, um noch eine kleine Runde im Lindenhofpark zu drehen, bevor die Kinder aus
     dem Kindergarten kämen, in der Hoffnung, die Bewegung und die Umgebung würden ihr dabei helfen, ihre Gedanken zu ordnen.
    Marie blieb am Ufer stehen. Das kleine Hafenbecken des Lindenhofparks war von einer moosbewachsenen Mauer und hölzernen Pfählen
     gesäumt, und es hatte sich so viel Treibholz darin gesammelt, dass man den Eindruck hatte, darauf gehen zu können. Nur in
     der Mitte glänzte das Wasser und zeigte dem Betrachter, dass es nur eine Illusion war und dass man schon beim Betreten hinabsinken
     würde ins Bodenlose. Marie fuhr sich unter den Rollkragen. Sie schwitzte. Sie war viel zu warm angezogen für diesen fast frühlingshaften
     Morgen. Man hätte nicht gemeint, dass es auf Weihnachten zuging. Vielmehr erstrahlte der Tag in österlicher Milde. Der Weg,
     der auf die kleine Halbinsel hinausführte, war von leuchtend rostrotem Laub gesäumt. Marie blieb vor dem Gruber’schen Gedenkstein
     stehen und las: »Rastlos vorwärts musst du streben   …« Sie wandte sich ab und trat an die Uferbrüstung. Wie friedlich, beinahe feierlich der See in seinem Bett lag, ein matter,
     ein blinder Spiegel, der heute – trotz Sonnenschein – ins Nichts zu führen schien. Wie seltsam, dachte Marie. Warum sieht
     man das Schweizer Ufer nicht, wo doch die Sonne scheint und der Tag so klar ist? Der Himmel über ihr leuchtete in einem satten
     Blau, doch zum Horizont hin zerfloss dasStrahlen, wurde immer kraftloser und verschwand schließlich ganz.
    Nach ihrem Gespräch mit Stella hatte Marie noch kurz bei Eva klingeln wollen, doch dann hatte sie die Hand, die bereits über
     dem Klingelknopf schwebte, wieder sinken lassen. Nein, sie musste ein wenig Abstand gewinnen. Über allem war da die grandiose,
     die umwerfende Botschaft gewesen, die Marie erst verarbeiten musste. Erik war nicht der Vater. Das hatte sie sich noch nicht
     einmal träumen lassen, in ihrer Vorstellung vom Happy End! Sie

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