Novemberasche
möchten zu Frau Imhoff. Wissen Sie zufällig, ob sie da ist?«
Stella Siebert zuckte die Achseln, hievte die Tasche über ihre Schulter und lächelte. »Keine Ahnung.«
Sommerkorn bedankte sich und sah ihr hinterher, wie sie mit ihrer Sporttasche um die Ecke bog. Das war also die Frau, mit
der Erik Paula betrogen hatte.
☺
»Wem hast du davon erzählt?«, will ER wissen.
»Niemandem.«
»Ich glaube dir nicht. Was ist mit Vicky, dieser Bitch?«
»Was soll mit ihr sein?«
»Hast du ihr was verraten?«
»Nein.«
»Wieso droht sie uns dann? Was weiß sie?«
»Nichts.«
»Vielleicht müssen wir dein Gedächtnis auffrischen?«
»Wieso? Nein.«
Und dann haben sie meine Hände mit Stacheldraht gefesselt.
»Wenn du einer Menschenseele auch nur ein Wort verrätst, überlegen wir uns was für dich. Vielleicht auch für dein Muttchen.«
»Lasst meine Mutter in Ruhe.«
»Wenn du die Schnauze hältst.«
*
»Kann ich mal deine Toilette benutzen?«, fragte Marie.
»Leider nicht«, erwiderte Eva und lachte, als sie Maries erstaunten Blick sah. »Das sollte ein Scherz sein.«
»Der war gut.« Marie nickte, grinste zurück und ging in die Diele.
»Links«, hörte sie Eva noch sagen, doch da hatte sie schon die nächstbeste Klinke heruntergedrückt. Sie merkte sofort, dass
sie sich geirrt hatte. Der Raum lag im Halbdunkel, die Fensterläden waren geschlossen. Und trotz der Kerzen, die auf dem Tisch
brannten und den Raum in ein sakrales Licht tauchten, verstand Marie nicht sofort.
Unter dem Fenster stand ein Tisch – oder war es ein Altar? –, über den ein langes weißes Tuch gebreitet war. Darauf rote Lichter, Totenlichter, wie man sie von Friedhöfen kannte. In
der Mitte stand das Foto eines Jungen, links und rechts davon je ein Strauß weißer Rosen. Tommy, dachte Marie und näherte
sich dem Foto. Das muss Tommy sein. Auf dem Bild kann er höchstens dreizehn sein. Ein blasser Junge mit dunkel gelocktem Haar
und einer Brille, der ernst, zu ernst in die Kamera blickt. Marie schluckte. Sie wandte sich ab und schlüpfte so geräuschlos
wie möglich aus dem Raum. Das Bad befand sich auf der anderen Seite der Diele. Vorsichtig zog sie die Tür hinter sich zu und
setzte sich auf den Wannenrand. Sie fühlte sichelend. Der Anblick dieser Gedenkstätte hatte sie mit voller Wucht an den eigentlichen Grund ihres Besuchs erinnert. Sie war
gekommen, um endlich Klarheit zu schaffen. Aber wie würde Eva reagieren, wenn Marie von ihrer Scharade erzählte? Eine Weile
dachte sie noch nach, wägte ab, was dafür und was dagegen sprach, bis sie schließlich keinen Vorwand mehr sah, noch länger
hier herumzusitzen. Während sie zurück in die Küche ging, überlegte sie fieberhaft, wie sie beginnen sollte, ohne allzu plump
und neugierig zu wirken. Wenn sie es recht bedachte, war ihr Eva in den wenigen Tagen, seitdem sie sie das erste Mal auf dem
Sprungplatz gesehen hatte, richtig ans Herz gewachsen. Gerade als sie die Küche betrat, klingelte es an der Haustür.
»Bleib sitzen. Ich mach auf«, sagte Marie und warf Eva, die am Esstisch saß, einen kurzen Blick zu.
Eva lächelte flüchtig und nickte.
Auf dem Flur grübelte Marie immer noch. Sie öffnete die Haustür mit Schwung. Als sie die Person, die vor ihr stand, erblickte,
trat sie einen halben Schritt zurück.
»Du?«
☺
Manchmal habe ich ein Gefühl, als würde ich nicht mehr lange leben. Heute Morgen, als ich zur Haustür rausging, wehte mir
ein Wind entgegen, ein eisiger Wind, dass ich dachte: So ist das Leben. Kalt, beschissen, und es kriecht einem unter den Kragen
und in alle Poren. Irgendwo da draußen lauern sie. Ich weiß das, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis etwas passiert.
*
»Und wo sind die Kinder?«, war Maries erste Frage. Sie sah Sommerkorn fassungslos an.
»Arlene fährt heute mit Tim ins
Sea Life
nach Konstanz. Sie hat Anna und Leni gefragt, ob sie mitwollen.«
Marie konnte immer noch nicht glauben, dass Sommerkorn vor ihr stand, vor dieser Wohnung. Halb verdeckt hinter ihm stand Barbara.
»Hallo Frau Stern.«
Barbara nickte Marie freundlich zu.
»Was machst du hier?«, fragte Sommerkorn.
»Dasselbe könnte ich dich fragen«, sagte Marie.
»Ich bin dienstlich hier.«
»Ich bin privat hier.«
»Seit wann kennst du Frau Imhoff?«
»Wer ist es denn?« In dem Moment kam Eva um die Ecke. Marie zögerte.
»Es ist … die Polizei.«
Evas Gesichtsausdruck veränderte
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