Novembermond
nur noch sein Blick, der mich berührte. „Bitte, Ellen.“
Ich zögerte. Vampir. Und Julian.
Julian lächelte ernst. „Beweg dich nicht, hörst du? Und fass mich nicht an.“
„Weil?“
„Weil ich selbst sehr durstig und in keiner guten Verfassung bin. Sonst kann ich für nichts garantieren. Du hast recht. Ich bin wie er. Genau wie er, Ellen, vergiss das nie.“
„Trotzdem willst du mir die Wunden verschließen? Ohne selbst …?“
„Ja. Ich gebe dir mein Wort.“ Die Festigkeit seiner Stimme beeindruckte mich. „Und jetzt sitz still.“
Ich nickte und gehorchte. Julian beugte sich vor. Mein Körper versteifte sich. Vorsichtig näherte er sein Gesicht meinem Hals. Ich sog den Atem ein und schloss die Augen. Julians Mund berührte meinen Hals mit unendlicher Zärtlichkeit, ich spürte, wie mich seine Lippen behutsam streiften, sein Mund über die Verletzungen glitt, langsam bis zu meiner Brust wanderte und nacheinander alle meine Wunden erforschten. Ich hatte Schmerzen, Angst und Widerwillen erwartet, aber langsam entspannte ich mich und überließ mich immer mehr meinen Empfindungen. Dabei reagierte mein Körper anders, als er sollte, und überraschte mich. Und ihn, als ich mich mit einem Seufzer an seine Schulter lehnte und versuchte, meine Hände um ihn zu legen.
„Ellen, nein.“ Julian stolperte rückwärts, bis er die Zimmerwand berührte. Für einen Moment stand er schwankend da, dann rutschte er zu Boden.
Ich sprang auf und wollte zu ihm.
„Nein. Komm nicht näher.“ Seine Stimme hörte sich seltsam schwerfällig an. Er schloss die Augen, aber ich hatte die Veränderung bereits gesehen, und sie jagte mir eine Riesenangst ein.
„Geh, Ellen. Die Schlüssel auf dem Tisch. Der BMW … Fahr zurück nach Berlin. Sofort.“
Julian machte keine Anstalten aufzustehen, legte seine Hände um seinen Körper und ich sah, dass sie zitterten.
„Aber …“
„Jetzt geh.“
„Julian …“
„Sofort!“
Ich sah die Anspannung in seinem Gesicht, den Kampf mit sich selbst, drehte mich um und tat, was er sagte.
Vor der Tür im Flur zog ich mich hastig an und stolperte nach draußen. Meine Knie bebten, als ich mich endlich auf den Fahrersitz des BMWs fallen ließ. Ich schlug die Wagentür zu und steckte den Zündschlüssel ein. Dann verstellte ich umständlich Sitz und Rückspiegel. Ich betrachtete mich. Meinen Hals. Meine Brust. Alle Verletzungen waren verschwunden. Julian meinte, in keiner guten Verfassung zu sein, dennoch hatte er alle meine Wunden geheilt. Vielleicht verstand ich erst jetzt, was er für mich getan hatte. Julian war bei Tageslicht von Berlin bis zur Ostsee gefahren – nur wegen mir. Und rettete mir schon zum zweiten Mal das Leben. Da konnte ich ihn doch nicht allein lassen?
Er hatte es doch so gewollt. Außerdem bin ich nicht heldenhaft. Im Gegenteil, eher ein Angsthase, ich traue mich noch nicht einmal, eine Station schwarz ohne Fahrschein zu fahren. Trotzdem überlegte ich ernsthaft, zurückzukehren? Zu einem Vampir? Der mich weggeschickt hatte, weil er dringend Blut brauchte und befürchtete, die Kontrolle zu verlieren?
Julian war ein Vampir, aber er war nicht wie Gregor, auch wenn er es behauptete. Meine Furcht führte einen kurzen Kampf mit meinen übrigen Gefühlen.
Ich stieg aus, ging zurück in das Apartment und stieß die Tür auf. Julian saß immer noch auf dem Boden, die Arme um den Körper geschlungen, die Knie seiner langen Beine zusammengepresst, den gesenkten Kopf darauf abgestützt. Er saß nur da. Zitterte. Das Tageslicht war ausgesperrt, aber er litt.
Julian sah auf. Er schien in meinem Blick zu lesen, den Plan zu erkennen. Sein Gesicht veränderte sich, zeigte verzweifelten Zorn. Aber seine funkelnden Augen waren die eines Verdurstenden, dem plötzlich Wasser angeboten wird. Wasser? Ich nahm das Obstmesser aus einer Schale mit verschrumpelten Äpfeln.
„Nein!“ Er sah sich um wie ein in die Enge getriebenes Raubtier, das einen Fluchtweg sucht, und machte Anstalten, auf die Füße zu kommen. „Du hast ja keine Ahnung …“
Entschlossen zog ich mir das Messer über den linken Unterarm. An meinem Handgelenk sammelte sich Blut.
Erst passierte nichts. Ich stand nur da.
Dann wurde ich von den Füßen gerissen und landete so heftig auf dem Sofa, dass mir die Luft wegblieb. Ich lag auf dem Rücken, Julian bedeckte mich mit seinem ganzen Körper. Sein Gewicht drückte mich schwer nach unten, und er zog mir die linke Hand hinter den Kopf. Ich spürte einen
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