Novembermond
Ecke bis zum Eingang. Nur ein schmaler Schrif t zug auf der eindrucksvollen Stuckfassade wies darauf hin, dass wir unser Ziel erreicht hatte n: Palmengarten.
Ein uniformierter Angestellter verließ sofort den Eingangsbereich, um mir die Wagentür zu öffnen. Als J ulian ausstieg, grüßte der Mann, nahm seinen Platz hinter dem Steuer ein und fuhr davon. An Julians desinteressiertem Gesichtsau s druck erkannte ich, dass es sich nicht um einen Autodiebstahl hande l te.
Wir betraten den Vorraum. Wieder stürzte ein Mann in Uniform herbei, die s mal, um uns die Mäntel abzunehmen und zur Garderobe zu bringen. Ich blickte mich um und sah überall nur festliche Kleidung und Abendgarderobe. Bestimmt war ich außer der Garderobiere die einzige Frau im Palmengarten, die eine b e queme Strickjacke trug. Immer in Bewegung bleiben, ermahnte ich mich und ging hastig hinter Julian her. Wenn ich hier, in der Nähe der Garderobe, zu lange st e hen blieb, würde mir jemand einen Mantel über den Arm legen und Trinkgeld in die Hand drücken. Vielleic ht hätte ich ausnahmsweise doch auf Tan te Ethel h ö ren und mich aufbrezeln sollen.
Im Vorraum vor dem Speisesaal standen Gäste und war teten geduldig auf Ei n lass. Ein älterer Mann im Smoking, der sich stirnrunzelnd über das dicke Rese r vierungsbuch beugte, sah auf, als wir näher kamen, und verbeugte sich. Er ve r beugte sich tatsächlich.
„Guten Abend, Julian“, sagte er ehrerbietig. „Ich habe den Tisch reserviert und hoffe, dass alles zu deiner Zufriedenheit vorbereitet ist!“
Dieser Julian hatte also VIP-Status. W ar um war ich nicht erstaunt?
Er nickte. Sein Gesicht zeigte freundliche Langeweile. „Vielen Dank, Manfred. Ich weiß deine Mühe sehr zu schätzen.“
Manfred verbeugte sich erneut und winkte einen jungen Kellner herbei, der uns an den W ar tenden vorbei in den Speisesaal führte.
Fasziniert sah ich mich um. Der Palmengarten machte seinem Namen alle E h re. Der große Saal war voller Grünpflanzen, die fast bis zu dem gläsernen Ku p peldach hoch über uns ragten. Die Wände waren weiß und mit goldenen Jugen d stilornamenten verziert, das Licht gedämpft und von sanftem Kerzenschein e r hellt, die Atmosphäre gleichzeitig intim und fes t lich. Trotz der Größe des Saals sorgte die Unterteilung in verschieden große Nischen, in denen die Gäste zu zweit oder in kleinen Gruppen beisammensaßen, für eine diskrete und beha g liche Stimmung. Viele Tische waren bereits besetzt. Eine große Freifläche mit wei ß goldenem Fu ß bodenmosaik musste von allen Gästen auf dem Weg zu ihrem Tisch überquert werden und konnte von jedem Platz aus beobachtet we r den. Sehen und gesehen werden, das machte den Besuch eines erstklassigen Resta u rants natürlich noch interessanter.
Ich war groß, aber mein Kopf reichte nur bis zu Julians Schulter. Er be wegte sich mit selbstverständlicher Eleganz, die nicht allein auf seine Kleidung zurüc k zuführen war . Seine machtvolle und selbstbewusste Ausstrahlung war fast körpe r lich spürbar, und alle Blicke folgten uns, ihm, da war ich sicher, als wir die Fre i fläche überquerten. Neben ihm fühlte ich mich wie Aschenputtel, allerdings ohne den gnädigen Beistand einer Fee. Oder einer Hase l nuss.
Ich musterte ihn aus den Augenwinkeln. Sein Gesicht zeigte die vertraute Ar r o ganz. Was für ein bornierter Angeber er doch war . Nein, berichtigte ich mich. So stimmte das leider nicht. Die Aufmerksamkeit, die er erhielt, schien ihn übe r haupt nicht zu berühren. Ich wusste nicht, ob das besser oder schlimmer war und fragte mich besorgt , wie der Abend wohl verlaufen würde.
Der Kellner führte uns zu einem Tisch in einer Nische, die von neugierigen Bl i cken abgeschirmt war . Der Tisch war mit Gläsern für zwei Personen ei n gedeckt. Aber nur dort, wo der Kellner mir meinen Stuhl zurechtrückte, lag B e steck.
Sofort eilte Manfred an unseren Tisch. „Ist alles in Ordnung, Julian?“
„Natürlich. Genauso, wie ich es er war tet habe.“
Der Mann verbeugte sich und ging.
Auf einmal lächelte Julian, wie um die bevorzugte Behandlung zu entschuld i gen. Diesmal war sein Lächeln war m und erreichte seine Augen. Sie schienen aufrichtig um mein Ve r ständnis zu werben. Ich war überrascht, wie sehr sich sein Gesicht dadurch veränderte. Das Eis taute, und die Wintersonne zeigte sich. Schau an. Mein Pulsschlag beschleunigte sich. Dieser Mann sollte häufiger l ä cheln. Oder besser nicht. Er war ohnehin beunruh i
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