Novembermond
Früher hatte ich es gehasst, so groß zu sein. Linkisch, schüc h tern und viel zu groß. Ich hatte nie das Gefühl, übersehen zu werden, obwohl ich mir das oft wünscht e . Inzwischen ist das anders. Meine Körpergröße gibt mir Siche r heit, jedenfalls im Beruf.
„Sie wissen, dass Sie dafür eine Abmahnung erhalten können.“
Benno braucht wirklich einen Nasenhaartrimmer, dachte ich, während ich gleichzeitig eine ziemlich unfreundliche Antwort ver war f. So einen, wie ich ihn in me i ner Lieblingsfiliale einer Kaffeerösterei gesehen hatte . Ob er den wohl auch für seine Ohren nutzen konnte ?
Gegen meine gute Laune kam auch Benno heute nicht an. „Ja. Und jetzt habe ich einen Termin“, sagte ich und ließ ihn stehen . Eine Patientin war tete vor me i ner Tür. Sie war klein, dünn und zwanzig Jahre alt . I hr kraftlose s Haar war zu einem dünnen Pferdeschwanz z u sammengebunden. Sie lächelte unsicher, w obei sie ihre Lippen so verzog, dass sie ihre Zähne halbwegs verstecken konnte . Eine Bulimie hinterlässt auch am Gebiss hässliche Spuren, der häufige Ko ntakt mit Magensäure ist den Zähne n alles andere als zuträglich. Unter ihrem langen T Shirt traten die Schulterknochen und ihre Wirbelsäule deutlich hervor. Das Shirt trug die Aufschrift Das Leben ist kein P o nyhof .
Da hatte sie wohl recht.
In der Teeküche lag eine Tageszeitung, und die Schlagzeile wurde wieder von den Alexanderplatz-Opfern bestimmt. Diesmal ging es um eine junge Frau, die ve r schwunden war , eine alleinerziehende Mutter, die als Zimmermädchen im Hotel Aeternitas arbeitete. Hinzu kam, dass die Eltern einer ebenfalls verschwu n denen Studentin nach einer Pressekonferenz bei einem Autounfall auf der Stad t aut obahn ve r unglückt waren . Die Mutter starb noch an der Unfallstelle, der Vater schwebte in Lebensgefahr.
In der Perso nalküche und auch unter den Patienten waren die Alexanderplatz-Opfer ein dauerndes Gesprächsthema. S icher keines, das der psychischen G e sundheit unserer Patienten zuträglich war , aber man sollte die Realität niemals ausblenden, auch nicht im Schutz einer Klinik .
Am Abend machte ich pünktlich Schluss, fuhr zum Wittenbergplatz und ging ins KaDeWe. Zweite Etage, Damenoberbekleidung. Wann hatte ich mir eigen t lich das letzte Mal etwas Neues zum Anziehen gekauft? Etwas, das nicht pra k tisch und für den Klinikalltag geeignet war ? Ich kann auch anders als Stric k jacke. Aber allzu übertrieben sollte es auch nicht sein. Ich wollte nicht, dass Julian glaubte, ich hätte mich extra für ihn neu einge kleidet, auch wenn es zutraf .
Es dauerte etwa eine Stunde, bis ich in der Abteilung mit den sehr edlen, se hr schlichten und sehr teuren Marken einen bunten Seidenrock fand und den dazu passenden sch war zen Seidenpullover.
Mit raffiniertem Ausschnitt. Wenn schon, denn schon.
Was anschließend noch einen Besuch in der Wäscheabteilung notwendig mac h te.
Die Verkäuferin, die ich vor einem langweiligen Abend rettete, entdeckte in mir ein naives Opfer – und ein so hübsches, wie sie mir versicherte – bei dem sie ihren Missionierungseifer auslebe n konnte . Sie schien es nicht fassen zu können, dass es in einer Stadt wie Berlin noch immer Frauen gab, die in Sachen Dame n unte r wäsche so unbedarft waren wie ich.
Ich staunte über die unterschiedlichen Modelle und Passformen. Zum ersten Mal in meinem Leben kaufte ich mir ein wirklich teures Seidenhemd mit Spitze, einen raffinierten , sch war zen BH und den passenden Slip dazu. Und eine zusät z liche Garnitur in Weiß, ein anderes Modell, das mir genauso en t z ückend stand.
Oh Mann.
Kurz vor Ladenschluss verließ ich die Wäscheabteilung mit einer winzigen Tüte und einer riesigen Rechnung. Neue Schuhe brauchte ich nicht, weil meine sch war zen Pumps so zie m lich zu allem passten. Schuhverrückt war ich wirklich nicht. Dann blickte ich auf die Uhr. Mit etwas Glück bei der Parkplatzsu che könnte ich in einer guten halben Stunde auf meinem Sofa sein.
Ich hatte Brot gekauft und Käse im Kühlschrank.
Lieber schön angezogen, als teuer gegessen. Großtante Ethel wäre sicher stolz auf mich.
Ich dachte an Julian. Übermorgen war es so weit. Mein Herz lachte.
*
Julian saß mit Andrej und Sam in den bequemen Sesseln der Besprechungsecke, die nur einen winzigen Teil von Jacks Büro einnahm. Das Büro bot eine gute Aussicht auf die untere Etage des Clubs Wilhelmina. Gäste und Musik der Tan z flächen waren hier oben
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