Novembermond
Himmel. Er ve r tiefte sich in die Kraft des Vollmonds, der sich hinter trüben Wolke n schichten ve r barg. Der Sonnenaufgang kündigte sich an. Zeit, sich zurückzuzi e hen.
Seine G edanken wanderten erneut zu Ellen. Er hatte seinen Entschluss hinau s gezögert, aber er wusste, er hatte keine Wahl . Er durfte seinen Tanz auf der R a sierklinge nicht länger fortsetzen.
Verdammte Gefühlsduselei. Er fühlte sich weich, fast schon aufgeweicht, offen und unausgeglichen. Er wusste, er stand an einem Scheid e weg.
Die Möglichkeit für Veränderung war da, ganz plötzlich, und sie betraf viele Bereiche seines Lebens. Julian fragte sich, was ihm mehr Angst machte, alles so zu belassen, wie es war , oder es zu wagen.
Ellen. Nach dem Arkanum.
Er hatte viel verloren. So viele.
Er fühlte Angst, sich wieder einzulassen. Aber vielleicht sollte er aufhören, z u rückz u schauen. Das hatte er viel zu lange getan. Vielleicht.
Er w ürde Ellen jetzt anrufen, das war e r ihr schuldig und sich selbst. Er schü t telte den Kopf. Diese Riesenration Selbstmitleid, die er sich soeben ve r passte, würde mindestens für die nächsten hundert Jahre reichen.
*
Mittwoc hmorgen . Endlich. Es war noch dunkel. Meine Gardinen waren zug e z o gen, weil ich de r Studenten-WG im Hinterhaus kein Scha u spiel bieten wollte, immerhin stand ich g e duscht und in Unterwäsche vor dem Kleiderschrank.
Als das Telefon klingelte, überlegte ich ernsthaft, nicht abzunehmen . Um diese Zeit konnte es eigentlich nur ein Kollege sein, der ausgerechnet heute beschlo s sen hatte , sich krank zu fühlen und mich mit wichtigen Vertretungsau f gaben eindecken wollte.
Aber das Klingeln hörte einfach nicht auf.
Ver flixtes Gewissen . Dabei wollte ich heute Abend wir k lich pünktlich zu Hause sein . Ich griff nach dem Hörer, bevor sich der Anrufbeantworter einschalt e te. „Langner?“
„Julian.“
Mein Herz schlug einen Purzelbaum. Eine ungewöhnliche Zeit für einen auße r gewöhnlichen Mann. Und … diese Stimme. „ He y . Guten Morgen“, sagte ich frö h lich.
„Ellen …“
An seinem Tonfall hörte ich sofort, dass mir der Grund für seinen Anruf nicht gefallen würde.
„Ja?“, fragte ich vorsichtig.
„Ich kann dich heute nicht sehen.“
„Oh, das tut mir leid“, sagte ich sachlich. Und war tete. Auf eine Erklärung und einen neuen Vorschlag. Aber es kam keiner.
„Ellen … es gibt keine Möglichkeit, dass wir uns in nächster Zeit treffen kö n nen.“
„Was ist los?“, fragte ich betont munter. „Musst du verreisen?“
„Nein“, sagte er zögernd. „Ich bleibe in Berlin. Aber seit dem Wochenende gab es … Vo r fälle, die es mir unmöglich machen, dich heute zu treffen.“
Vorfälle? „Kannst du mit mir über diese … Vorfälle sprechen?“
„Nein, Ellen. Es tut mir leid.“
„Mir tut es auch leid.“ Der Mann hatte Nerven.
„Ich kann es dir nicht erklären. Noch nicht. Ich kann dich nur bitten, mir zu vertrauen“, sagte Julian weich.
Das kam mir irgendwie bekannt vor. Ich spürte, wie sich mein Hals schmer z haft z u sammenzog. Blondinen sind nicht dumm. Das ist nur ein Gerücht.
„Ich will dich unbedingt wiedersehen, aber ich weiß noch nicht, wann mir das möglich ist, und ich will dir kein Versprechen machen, das ich nicht einhalten kann.“
So wie das, eine perfekte Nacht zusammen zu verbringen? „Dann sag mir bitte, was los ist, Julian. Ich bin sicher, dass ich deine Gründe verstehe.“
„Das kann ich nicht, Ellen. Noch nicht. Darf ich dich anrufen, wenn es so weit ist? Später?“
„Wann später?“
„In zwei bis drei Monaten.“
Ich erstarrte . Und fühlte mich, als hätte mir Julian den Boden unter den Füßen we g gezogen. Natürlich ging er davon aus, dass ich bis dahin nichts Besseres zu tun haben würde, als auf ihn zu war ten.
Es war nicht nur sein attraktives Aussehen, in das ich mich verliebt hatt e. Viel schlimmer war , dass ich ihm wirklich vertraut e . Ich hatte sogar geh off t , ihm me i ne seltsame, panische Angst von gestern anve r trauen zu können. Ich dachte a n s ein Angebot, mit mir ü ber meine Gabe zu sprechen.
Alles vorbei.
„ War um nicht?“ Immerhin klang meine Stimme kühl und beherrscht . „Vie l leicht kann ich dann ein Treffen ei n richten.“
„ Es tut mir leid, Ellen. Bitte vertrau mir. Ich werde mich …“
„Vertrauen?“ Ausgerechnet. „ War um sollte ich das tun?“, unterbrach ich ihn ruhig. „Du tust es ja auch nicht. Ich wünsche dir
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