Novembermond
ältesten von allen, sitzen lassen.
Wie konnte er das tun? Er konnte , weil er ein Mann war . Männer können das. Ganz einfach. Und ich war dumm genug, auf ihn hereinzufallen. Warum hatte ich es noch immer nicht gelernt?
Bei der heutigen Chefarztvisite glänzte der Chefarzt wie immer mit einem be ei n druckenden Einfühlungsvermögen. Gerade versicherte er einem Jurastude n ten, der unter Depressionen und einer Ler n störung litt, wie gut man doch als Anwalt verdienen k ann .
Immerhin bedeutete der Jurastudent de n Abschluss der Visite , und ich zog e r leich tert die Zimmertür hinter mir zu, um der Pr o zession hinaus in den Gang zu folgen. Als ich um die Ecke trottete, stand die Gruppe noch zusammen und bi l dete einen Halbk reis, aber ich konnte nicht e r kennen, war um. Neugierig trat ich näher. Benno war klein, deshalb stellte ich mich hinter ihn. Über seinen Kopf hinweg erkannte ich die Ursache für das Gedränge: Der Chefarzt unte rhielt sich mit Christian Hartmann .
Ich musterte ihn überrascht. Christian Hartmann sah unglaublich gut aus. Er trug einen seidigen, hel l blauen Pullover, verwaschene Jeans, die sich über seinen perfekten Po spannten und weiche, hellbraune Stiefel. Sein blondes Haar war sorgfältig gegelt. Über seinem Arm lag eine hellbraune Lede r jacke, und über dem Gesicht ein artiges Lächeln.
Sobald der Chefarzt mich entdeckt e , winkte er mich heran. „Frau Langner? Kommen Sie bitte zu mir.“ Allen anderen verkündete er: „Die Visite ist b e endet.“
Benno musste sich an mir vorbeidrängen und war f mir einen bösen Blick zu. Ich zeigte mein süßestes Lächeln, wobei ich mich fragte, war um Christian Har t mann wohl hier war und was ich damit zu tun hatte . Meine Frage wurde sofort beantwortet, denn auch der Chefarzt lächelte, ganz väterliches Wohlwollen. He u te war offenbar der Tag des Lächelns. Was waren wir doch für eine fröhliche und ve r gnügte Klinik. Fast wie in Leidenschaft in Weiß .
„Herr Hartmann ist heute vorbeigekommen, weil er sich natürlich daran eri n nert hat, dass donnerstags die Chefarztvisite ist.“
Natürlich. Der größte Fan des Chefarztes war der Chefarzt selbst. „Er hat mich gefragt, ob er mit Ihnen psychotherapeutische Gespräche führen kann.“ Der Chefarzt wiegte bedächtig seinen Kopf hin und her und sah Christian bekümmert an. „Nun. Frau Langner kann Sie leider nur stationär behandeln“, beantwortete er seine Frage gleich selbst. Es schien ihn wir k lich sehr traurig zu machen, ei nen Patienten, der eine so hohe Spende einbracht e , en t täuschen zu müssen.
Ich lächelte gezwungen. „Guten Morgen, Herr Hartmann . Wie geht es Ihnen?“
Auch Christian lächelte. „Es geht wieder, ganz okay.“ Er runzelte die Stirn. „Aber es gibt einige … persönliche Probleme, die mir sehr zu schaffen machen. Die ich mit Ihnen b e sprechen möchte.“
„Ich habe Herrn Hartmann bereits angeboten, sich für einige Tage stationär auf unserer Station 3 b e handeln zu lassen, wo man ihm hervorragend helfen könnte“, bedauerte der Chefarzt.
Das konnte ich mir vorstellen. Station 3 mit seinen Privatpatienten war seine absolute Lieblingsstation.
„Aber Herr Hartmann meint, dass er nur durch … therapeutische Gespräche mit Ihnen profitieren kann.“
Das wunderte nicht nur den Chefarzt, sondern auch mich, obwohl ich ve r st and , dass er sich bei mir gut aufgehoben fühlte. Kurz überlegte ich, ob Julian dahinte r steckte, aber das konnte nicht sein . Schließlich war er es gewesen, der den Ko n takt zu mir a b gebrochen hatte .
„Es tut mir sehr leid, aber ich kann Ihnen wirklich nicht helfen. Ich arbeite nur stationär, hier, im Krankenhaus. Ich kann Ihnen aber Adressen von Thera peuten oder Beratung s stellen geben, wo man Ihnen weiterhelfen kann.“
„Ich hatte so sehr gehofft, dass Sie Zeit für mich haben“, sagte Christian en t täuscht.
Der Chefarzt räusperte sich. „Nun, nun. Vielleicht weiß ich doch noch einen Ausweg. Sicher kann Sie Frau Langner einige Stunden hier in der Klinik beraten, bis ein erfahrener Psychotherapeut für Sie gefu n den ist. Diese Suche wird unsere Frau Langner selbstverständlich gern überne h men.“ Jetzt strahlte er mich wieder an und verströmte seine übliche, unangemessene B e geisterung.
Was für eine blöde Idee. Mein Lächeln fiel entsprechend gedämpft aus. „Ich bin leider völlig au s gelastet“, widersprach ich liebenswürdig.
„Ach was“, wischte der Chefarzt
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