Novemberrot
übersehen werden. Insgesamt wirkte der ganze Raum mit seiner dunklen, altmodischen Ausstattung wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten, das verzweifelt versuchte, sein Dasein in der Gegenwart zu rechtfertigen .
» Wie konnten sich Menschen hier nur wohl fühlen?« Fritz fand keine Erklärung dafür.
Er begann nun die Befragung von Kreismüllers Witwe, so wie er es geplant hatte. Der Polizist stellte seine Fragen und sie beantwortete alles schnörkellos und ohne Umschweife. Maria, die ganze Vernehmung hinter dem massiven Schreibtisch stehend, verstrickte sich dabei weder in Widersprüche noch kamen Ungereimtheiten auf, die sie mit dem Mord hätten in Verbindung bringen können. Zudem gab sie an, dass Katharina bezeugen konnte, dass sie zu fraglichem Zeitpunkt zu Hause war. Fritz notierte sich alles akribisch in seinem Block .
» Und wieder jemand, den wir von der Liste streichen können.«
Leise Zweifel regten sich in seinem Kopf, ob er wirklich in der Lage war, den Fall so zügig zu lösen, wie er es sich gestern vorgenommen hatte. Eigentlich hatte er vorausgesetzt, dass die Familie aufgrund der Trauer nur schwer zu befragen sein würde. Aber wie er bereits bei Rosi festgestellt hatte, so zeigte auch sie nicht die üblichen Anzeichen, welche nach dem tragischen Verlust eines nahestehenden Menschen zu erwarten waren.
Während die Stieftochter des Toten, so wie es den Anschein hatte, nur blanken Hass für ihn übrig hatte, war Maria in all ihren Äußerungen stets darauf bedacht, die Achtung für ihren verstorbenen Mann dabei mitklingen zu lassen. Allerdings tauchte das Wort »Liebe« wie sich Weller später erinnerte, nicht ein einziges Mal in den Ausführungen der Witwe auf .
» Wie war denn das Verhältnis ihrer Tochter zu Kreismüller?« Weller kam Rosis Gefühlsausbruch von vorhin wieder in den Sinn .
» So wie es eben ist zwischen Stieftochter und Stiefvater!«, fuhr ihn Maria energisch an .
» Wie kommt der junge Schnösel überhaupt auf so eine Frage?« Doch sie riss sich zusammen und erklärte mit ruhiger Stimme, dass es schließlich wie überall sei .
» Es gab zwar kleinere Streitigkeiten, aber nichts Dramatisches.« Weller hatte seine Befragung eigentlich längst beendet und wollte sich von Maria verabschieden, als sie das kleine graue Blechkästchen öffnete, welches mitten auf dem Schreitisch stand. Sie nahm ein vergilbtes Stück Papier heraus und reichte es dem Kommissar. Den Text hatte der Verfasser vermutlich unter großem Zeitdruck in altdeutscher Sütterlin-Schrift darauf gekritzelt. Weller hatte so seine liebe Mühe, alles zu entziffern und musste mehrfach neu ansetzten, als er folgende Zeilen leise vor sich hin sprechend las:
Treuer Freund,
ich gehe dahin zurück, wo es mir in den letzten Jahren, bevor ich zurückkehrte, besser erging … sofern der Begriff »besser« hier überhaupt angebracht ist.
Du brauchst nicht nach mir zu suchen, denn das was ich hier zu finden erhoffte, blieb mir verwehrt …
Vielen Dank für alles, was Du für uns getan hast.
Michael
… irgendwann sehen wir uns vielleicht wieder, wer weiß …
»Der Brief stammt von Michael, meinem ersten Mann. Ein guter Freund, der gestern beerdigt wurde, hatte ihn mir kurz vor seinem Tode gegeben.«
Maria atmete schwer und schaute während sie diese Worte sprach nicht zu Weller. Ihr Blick verlor sich ziellos im Raum und sie schien mit den Gedanken in einer anderen Welt zu sein. Ihre Gesichtsfarbe, die vor Minuten noch rosig und gesund wirkte, hatte sich, so als hätte jemand einen Schalter umgelegt, in aschgrau gewandelt. Tränen kullerten über ihre Wangen.
Der junge Polizist wusste nicht so recht, wie er sich in dieser Situation nun verhalten sollte. Auch war ihm unklar, weinte die Frau jetzt wegen des plötzlichen Todes ihres Mannes, oder war es vielmehr der Inhalt des Briefes, welcher diesen Gemütszustand bei ihr auslöste?
»Wenn man das so liest, scheint an dem Dorfgeschwätz doch was Wahres dran zu sein.«
Weller erinnerte sich sogleich an die widersprüchlichen Aussagen aus den ersten Zeugenbefragungen und der von Rosi .
» Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihre Tochter gestern richtig verstanden habe, doch erzählte sie uns, dass ihr leiblicher Vater im Krieg gefallen sei.«
Maria trocknete mit einem weißen Stofftaschentuch ihre Tränen. Dann antwortete sie leise: »Rosi war damals noch ein Kind. Sie müssen verstehen … ihr Vater in diesem gottverdammten Krieg und keine Nachricht, kein
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