Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Novemberschnee

Novemberschnee

Titel: Novemberschnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Banscherus
Vom Netzwerk:
drehte sich vor meinen Augen. Ohne an Tom und seine Pistole zu denken, rannte ich aus dem Haus. Im Schnee vor der Küche übergab ich mich, würgte, bis nur noch bittere Spucke kam. Es war ein Alptraum. Nein, es war schlimmer. Aus Alpträumen wacht man irgendwann auf. Dieser würde bleiben. Für immer.
    Ich wischte mir den Mund mit Schnee ab und ging zurück zu Tom. Draußen war es jetzt stockfinster. Selbst wenn ich gewollt hätte – ich hätte nicht abhauen können. Ich musste bis zum Morgen warten und hoffen, dass Tom nicht durchdrehte. Vielleicht gelang es mir sogar, ihm die Pistole abzunehmen. Schließlich musste er mal schlafen.
    »Wo hast du Jurij hingebracht?«, fragte ich, als ich in die Kammer zurückkam.
    Er zuckte die Schultern. Die Hand mit der geladenen Pistole lag schlaff in seinem Schoß.
    »Bitte, Tom«, sagte ich. »Wo hast du ihn hingebracht?«
    Ich hatte vor unserer Flucht noch nie einen Toten gesehen. Solange ich denken kann, hatte ich Angst davor gehabt. Nicht einmal meine Oma hatte ich angucken wollen, nachdem sie gestorben war. Dabei war ich in den Sommerferien oft bei ihr gewesen und hatte sie sehr gemocht. Aber Jurij musste ich sehen. Kann sein, dass ich hoffte, er lebte noch. Ja, das wird es gewesen sein.
    »Du bleibst hier«, sagte Tom und zielte mit der Waffe auf mich.
    »Und wenn ich es nicht tue?«
    »Bleib sitzen oder ich erschieße dich.«
    »Du traust dich nicht.«
    »Und danach erschieße ich mich.«
    Ich schaute ihm ins Gesicht und wusste, dass er es ernst meinte. Todernst.
    »Wir können zusammen zu Jurij gehen«, schlug ich vor.
    Tom schüttelte den Kopf.
    Er war gefährlich, das verstand ich jetzt. Wie ein verletztes Raubtier war er zu allem fähig. Ich musste mich vorsehen, durfte ihn nicht reizen.
    »Du brauchst einen Arzt«, sagte ich. »Sonst kriegst du noch Wundbrand oder wie das heißt.«
    »Mir egal. Du bleibst hier.«
    »An Wundbrand kannst du sterben«, sagte ich.
    »Du kennst dich aus, was?«
    Die Kerze begann zu flackern, nur eine winzige blaue Flamme klammerte sich noch an den Docht. Ich nahm eine neue Kerze aus der Einkaufstüte und wollte sie anzünden. Doch Tom hinderte mich daran. »Kein Licht«, murmelte er. »Mir tun die Augen weh.«

10.
    Wahrscheinlich sitzen Sie gerade in Ihrer Kanzlei, lesen meinen Bericht und denken: Hat Phantasie, die Lina, alle Achtung. Hat sich richtig angestrengt mit ihrer Geschichte. Aber sie sollte einen alten Hasen wie mich nicht für dumm verkaufen, das haben schon ganz andere versucht und es nicht geschafft.
    Dabei war es genau so, wie ich es Ihnen beschrieben habe. Natürlich konnte ich nicht überprüfen, ob Tom in allem die Wahrheit sagte. Doch wie er dort in der Kammer vor mir saß, das Gesicht leichenblass, die Hand auf dem Bauch, in dem eine Kugel steckte, hab ich ihm geglaubt. Er war vielleicht ein Schläger. Aber ein Mörder war er nicht. Oder meinen Sie vielleicht, er hätte erst Jurij umgebracht und sich dann in den Bauch geschossen? Ich jedenfalls kann mir das nicht vorstellen. Beim besten Willen nicht.
     
    Wir sprachen nicht mehr. Stundenlang kein Wort. Finster war es im Raum. Von der Stelle, an der Tom saß, hörte ich rasche Atemzüge, dazwischen Stöhnen. Ich hatte Angst. Um mich hatte ich Angst, aber mehr noch um Tom. Dass er die Nacht nicht überlebte, dass unser verfluchtes Spiel das nächste Opfer forderte.
    Als ich sicher sein konnte, dass Tom schlief, kroch ich unter den Vorhängen hervor und schlich nach draußen. Ein scharfer Wind fegte ums Haus. Die Kerze und die Streichhölzer, die ich mitgenommen hatte, nützten mir nichts. Der Sturm löschte die Flamme sofort wieder aus.
    Der Schnee gab ein wenig Licht. Es reichte aus, um ein paar Meter weit sehen zu können. Systematisch begann ich die Umgebung des Hauses abzusuchen. Schaute in Verschläge, suchte am Waldrand, sah unter umgestürzten Bäumen nach. Von Jurij fand sich keine Spur. Obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass Tom seine Leiche im Haus versteckt hatte, untersuchte ich auch dort jeden Winkel. Ebenfalls ohne Erfolg.
    Ich schlich in die Kammer zurück und rollte mich in die Vorhangstoffe ein. Das Letzte, was ich hörte, war Toms leises Schnarchen. Irgendwie fühlte ich mich dadurch getröstet.
    Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte, als ich von einem Geräusch wach wurde. Jemand schlich ums Haus, eine raue Männerstimme war zu hören. Allerdings konnte ich nicht verstehen, was sie rief. Das musste die Polizei sein. Sie hatten uns

Weitere Kostenlose Bücher