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Novemberschnee

Novemberschnee

Titel: Novemberschnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Banscherus
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damit?«
    »Nimm du es.«
    »Ich will es nicht.«
    »Ist mir aber lieber, Lina. Sobald ich wieder gesund bin, hauen wir ab. Nach Australien, ja? Wenn ich es nicht schaffe, fliegst du allein«, sagte er. »Versprich mir das. Bitte!«
    »In Ordnung.«
    Er gab mir das Geld. Ich steckte es in die Taschen meines Anoraks und er drückte sich tiefer in meinen Arm. Wir waren fast ein Jahr zusammen gewesen und hatten nie miteinander geschlafen. Ich hatte es einfach noch nicht gewollt, ich fühlte mich zu jung. Melanie hatte mich dafür ausgelacht und mich »eiserne Jungfrau« genannt. Dabei hatte sie es erst zwei oder drei Wochen vor der Geschichte in der Bank getan. Mit Kevin aus unserer Parallelklasse war sie nach einer Party ins Bett gegangen. Es sei ein ziemlicher Reinfall gewesen, hatte sie mir hinterher erzählt.
    Tom war zu schüchtern gewesen, um mich zu drängen. Aber jetzt hätte ich gern mit ihm geschlafen. Mit dem Jungen, der Jurij erschossen, der mich ein paar Stunden zuvor mit der Pistole bedroht hatte. Ganz schön verrückt, finden Sie nicht? Vielleicht sollte ich Ihnen das gar nicht erzählen. Aber Sie wollten was über mich wissen. Wie ich denke und so. Dazu gehört das auch. Dass ich in diesem Augenblick so nah mit Tom zusammen war wie noch nie.
    Er lag in meinem Arm und schnarchte leise. In nichts ähnelte er mehr dem Jungen, dem sie in der Schule lieber aus dem Weg gingen, wenn er wütend wurde. Vielleicht war es das, was mich in dieser Nacht anzog. Dass er groß war – und klein. Dass ich keine Angst hatte, dass er mir wehtat. Vielleicht lag es aber auch daran, dass wir beide so allein auf diesem schwarzen Stern waren. Ich musste ihn durch die Nacht bringen. Er durfte nicht auch noch sterben.

11.
    Ich wachte von einer Bewegung auf. Tom hatte sich wohl gerade erst aus meinem Arm gerollt, das musste mich geweckt haben. Jetzt riss er sich die Decken herunter. Der Fleck auf seinem Pullover war, soweit ich das erkennen konnte, nicht größer geworden. Ich stand auf und deckte Tom wieder zu. Er wehrte sich, hatte aber kaum Kraft, mir Widerstand zu leisten. Eine Weile lag er ruhig, atmete flach, dann begann das Spiel von neuem.
    »Wenn du nicht zugedeckt bleibst, erfrierst du«, schimpfte ich ihn aus.
    »Mir ist heiß«, murmelte er.
    »Trotzdem«, sagte ich. Wir hatten alle unsere Trinkvorräte verbraucht. Ich ging nach draußen, holte Schnee und legte ihn auf Toms Lippen. Gierig schluckte er die kalte Flüssigkeit herunter.
    »Mehr!«, flüsterte er.
    Ich tat ihm den Gefallen. Die Schneedecke war über Nacht weiter gewachsen, fester nasser Schnee, der schon die ersten Zweige von den Bäumen am Rand der Lichtung hatte brechen lassen. Auf der weißen Fläche hinterm Haus waren Tierspuren zu sehen und Fußabdrücke, die von einem sehr großen Menschen stammen mussten. Sie liefen vom Wald zum Vorbau des Ausflugslokals und wieder zurück. Im Augenblick schneite es stark, die Spuren konnten noch nicht alt sein. Und wir hatten gedacht, hierher verirrte sich keine Menschenseele.
    Ob dieser Unbekannte bemerkt hatte, dass wir im Lokal waren? Ob er uns vielleicht sogar beobachtet hatte, während wir schliefen? Ob er jetzt die Polizei alarmierte? Wie gleichgültig mir das alles war. Hauptsache, Tom kam bald ins Krankenhaus.
    Als ich mit einer neuen Portion Schnee zu ihm zurückkehrte, blickte er mir mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen entgegen. »Wo ist Jurij?«, fragte er.
    »Das weißt du doch.«
    »Ist er abgehauen?«
    Ich tupfte ihm mit dem Armel den Schweiß von der Stirn. »Jurij ist tot«, sagte ich.
    »Tot?«
    »Ihr habt euch geschlagen und dabei hast du ihn erschossen.«
    »Aber …« Tom zeigte aufgeregt zur Tür. »Aber ich hab ihn gerade gesehen. Gleich da vorn stand er!«
    Tom phantasierte. Bestimmt war sein Fieber inzwischen auf über vierzig geklettert. Und bestimmt hatte er auch schon diesen Wundbrand, in seiner Nähe roch es ganz komisch. Ich musste sofort was tun, sonst überlebte er diesen Tag nicht.
    »Ich hole einen Arzt«, sagte ich.
    »Nein!!«, rief Tom. »Bleib hier! Was ist, wenn Jurij zurückkommt? Lina, ich hab Angst!«
    »Jurij ist tot«, wiederholte ich.
    Auf einmal begann Tom zu weinen. Ich hatte ihn noch nie weinen sehen, dazu wäre er früher viel zu stolz gewesen. Jetzt schluchzte er wie ein kleines Kind, konnte sich nicht beruhigen. Ich kniete mich neben ihn, streichelte ihn, redete auf ihn ein. Es nützte nichts. Die Tränen liefen ihm unaufhörlich über die mit schwarzen

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