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Novemberschnee

Novemberschnee

Titel: Novemberschnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Banscherus
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Stoppeln bedeckten Backen.
    Schließlich stand ich auf. »Ich muss gehen«, sagte ich. »Sollst sehen, im Krankenhaus können Sie dir bestimmt helfen.«
    Damit lief ich hinaus. Eine Zeit lang hörte ich Tom noch meinen Namen rufen, dann war es still. Dann war um mich herum nichts als graues Morgenlicht.
    Auf der Bundesstraße lag eine dicke Schicht festgefahrener Schnee. Bald überholten mich ein Räumfahrzeug und in seinem Schlepptau ein Streuwagen. Das nadelspitze Granulat, das er auswarf, traf mich im Gesicht. Einer der Fahrer kurbelte die Scheibe herunter und rief mir lachend etwas zu. Der Wind riss ihm die Worte vom Mund.
    An einer Haltebucht für Linienbusse blieb ich stehen. Ich trage nie eine Uhr, deshalb wusste ich nicht, wie spät es war. Aber es war sicher noch vor sechs. Der erste Bus fuhr laut Fahrplan um halb sieben. Bis dahin war ich hier festgefroren. Wenigstens schützte mich der Unterstand ein wenig. Um mich warm zu halten, hüpfte ich von einem Bein aufs andere.
    Dann hielt ein Auto, es war irgendein Kombi. Eine Ladung Schnee rutschte langsam vom Dach über die Windschutzscheibe. Am Steuer saß eine Frau. Sie trug eine bunte Mütze mit Ohrenklappen und einen ebenso bunten Schal.
    »Wohin willst du?«, rief sie, nachdem sie mit einiger Mühe das Beifahrerfenster heruntergekurbelt hatte.
    »In den nächsten Ort.«
    Sie schaute auf ihre Armbanduhr. »Der Bus kommt erst in einer knappen Stunde«, sagte sie. »Bis dahin bist du erfroren. Los, steig ein!«
    Im Auto war es mollig warm, schon nach wenigen Minuten fühlte ich mich wie neugeboren. Die Frau fuhr ziemlich unvorsichtig, ein paar Mal kamen wir ins Schleudern. Aber jedes Mal fing sie den Wagen wieder ab. Ihr schien das Spaß zu machen, sie strahlte, wenn wir quer zur Fahrtrichtung durch eine Kurve rutschten.
    »Du bist früh unterwegs«, sagte sie irgendwann. An einer Steigung hingen wir hinter einem Lastwagen fest, der höchstens dreißig fuhr.
    »Wie viel Uhr ist es denn?«, fragte ich.
    »Kurz nach halb sechs«, antwortete die Frau. »Du bist nicht von hier, oder?«
    »Wieso?«, fragte ich erstaunt.
    Die Frau ging auf meine Frage nicht ein. Stattdessen wollte sie wissen, wo sie mich hinbringen solle. Sie habe Zeit. Sie müsse erst um acht am Flughafen sein. Ihr Mann komme von einer Geschäftsreise zurück.
    »Ich muss zu einem Arzt«, sagte ich.
    »Zu einem Arzt? Da wirst du im nächsten Ort kein Glück haben.«
    »Und wo finde ich einen?«
    »Wir müssen noch ein paar Kilometer weiterfahren«, antwortete die Frau. »Wenn du willst, bringe ich dich hin.«
    »Oh ja, bitte!«
    Ich mochte diese Frau. Sie schien schon ziemlich alt zu sein, unter ihrer Kappe guckten weiße Haare hervor. Aber ihr rundes Gesicht war glatt und freundlich. Wie bei meiner Oma. Schon als kleines Kind hab ich sie gern geküsst. Da hatte ich immer das Gefühl, ich legte meine Lippen auf einen dicken Apfel.
    Die Frau am Steuer wollte nichts weiter von mir wissen. Dabei hätte sie allen Grund gehabt, neugierig zu sein. Sie fragte nicht, woher ich kam und warum ich meine Kapuze nicht absetzte. Sie fragte nicht, was ich beim Arzt wolle. Sie interessierte sich nicht für meine dreckigen Klamotten und für meine ungewaschenen Haare. Wahrscheinlich roch ich inzwischen auch ziemlich streng. Sie fuhr bloß viel zu schnell über die glatten Straßen, lachte laut, sobald der Wagen mal wieder ins Rutschen kam, und stieß mich mit dem Ellenbogen an, als sich auf einer Lichtung ein Reh zeigte. Meinetwegen hätte ich ruhig noch ein paar Stunden in diesem Auto sitzen können. Aber Tom brauchte Hilfe. Und zwar so schnell wie möglich.
    Deshalb war ich froh, als wir endlich vor einer Arztpraxis hielten. Drinnen brannte kein Licht, der Weg zur Haustür war nicht vom Schnee geräumt. Dr. Klaus Schmidt stand auf einem Schild neben dem Eingang.
    »Soll ich mit reinkommen?«, fragte die Frau.
    Ich schüttelte den Kopf. »Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte ich.
    Sie lachte, ein tiefes freundliches Lachen. »Gern geschehen«, sagte sie. Und: »Der Arzt ist in Ordnung. Tschüss, Kleine!«
    Ich stieg aus und winkte ihr nach, während sie den Motor aufheulen ließ und um die nächste Kurve schlingerte. Dann war ich wieder allein.
    Ich befand mich in einer Seitenstraße, rechts und links standen Reihenhäuser und zweigeschossige Villen. Im Vergleich zu dem verfallenen Ausflugslokal kam ich mir hier vor wie in einer Filmkulisse. Alles war gepflegt und neu, nirgendwo war eine Dachpfanne

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