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Novemberschnee

Novemberschnee

Titel: Novemberschnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Banscherus
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einfach den günstigen Moment für einen echten Überfall nutzen wollen.
    Tom schraubte die Wodkaflasche auf und nahm einen tiefen Schluck. »Du auch?«, fragte er.
    Ich sagte nichts, sondern machte mich auf die Suche nach einer Waschgelegenheit. In einer der völlig verschmutzten Toiletten fand ich einen tropfenden Wasserhahn. An der Wand hingen die Überreste eines Spiegels. Ich wusch mir, soweit das möglich war, das Gesicht, putzte mir die Zähne und kämmte mich. Meine Haare brauchten dringend ein Shampoo. Aber was aus dem Hahn tröpfelte, reichte dafür nicht aus. Obwohl ich mich nach dem Waschen eindeutig besser fühlte, blieb die Angst. Ich steckte in einem tiefen schwarzen Loch und rutschte immer tiefer hinein. Hier war etwas passiert. Ich musste unbedingt wissen, was.
    Als ich in die Kammer zurückkehrte, war Tom verschwunden. Die Wodkaflasche stand halb ausgetrunken auf dem Boden, daneben lag das angebissene Brötchen. Ich setzte mich unter das Fenster, zog einen Vorhang über mich und schloss die Augen.
    Wo mochte Jurij jetzt sein? Hatte die Polizei ihn schon erwischt? Warum hatte er mir nicht gesagt, was er vorhatte? Warum hatte er mich mit Tom allein gelassen?
    Jurij war intelligent. Eigentlich gehörte er aufs Gymnasium, in unserer Klasse steckte er jeden in die Tasche. Aber er hatte keine Lust auf Latein und Mathematik. »Was soll ich damit, ich werde sowieso Automechaniker«, sagte er, wenn ihn einer darauf ansprach. Seine Eltern waren in Kasachstan Lehrer bei der Armee gewesen. Keine Ahnung, was sie da unterrichtet hatten. Jetzt arbeitete seine Mutter als Putzfrau und der Vater saß zu Hause. Irgendwann hatte er mal eine Stelle in einem Getränkemarkt gefunden. Dann hatte er sich schon am zweiten Tag den Arm ausgerenkt und hatte die schwere Arbeit nicht mehr machen können. Normalerweise war er ein netter Mensch, wirklich. Als ich früher noch öfter bei ihnen zu Besuch gewesen war, hatte er mich wie seine Tochter behandelt.
    Und jetzt war Jurij weg. War mit seinem kaputten Knie in den Schnee hinaus. Humpelte irgendwo da draußen herum. Wusste vielleicht immer noch nicht, wo wir bei unserer Flucht gelandet waren. Und hatte mit Sicherheit keine Vorstellung, wo er hinsollte.
    Tom hatte ihm von sich aus 16000 Mark angeboten. Wäre er wirklich nur auf das Geld aus gewesen, hätte Jurij die Scheine bestimmt genommen. Damit wäre er ganz schön lange ausgekommen. Hatte er wirklich alles für sich allein haben wollen? Hatte ich mich so in ihm getäuscht? Außerdem verstand ich die Sache mit dem Kampf nicht. Jurij wusste genau, dass Tom viel stärker war als er, dass er gegen ihn nicht die geringste Chance hatte. Warum hatte er es darauf ankommen lassen?
    Obwohl mir der Kopf brummte, schlief ich ein. Als ich aufwachte, lag ich auf der Seite, über mir einen Haufen Vorhänge. In einer Ecke der Kammer saß Tom und starrte mich an.
    »Wie spät ist es?«, fragte ich. Meine Stimme klang kratzig wie nach einer schweren Erkältung.
    Tom zog den Armel seines Pullovers hoch und schaute auf seine Armbanduhr. »Kurz vor vier«, antwortete er. »Du hast fünf Stunden geschlafen.«
    Fünf Stunden? Mir war es wie ein kurzer Mittagsschlaf vorgekommen. Ich setzte mich auf und warf die Vorhänge neben mich. Tom musste mich damit zugedeckt haben. Manchmal überraschte er mich. Das war schon immer so gewesen.
    »Und was hast du gemacht?«, fragte ich.
    Er zuckte die Schultern. Sein Gesicht sah schrecklich aus, unter den Augen hatte er tiefe Ringe. Im nachlassenden Licht, das durch die Tür in den Raum fiel, erinnerte nichts mehr an den Tom, den ich mal gekannt hatte.
    »Ich hab dir eine Zahnbürste mitgebracht«, sagte ich.
    Er nickte. »Hab ich gesehen«, sagte er.
    »Für Jurij ist auch eine dabei«, sagte ich.
    »Mhm«, machte Tom.
    »Wo er jetzt wohl ist?«
    »Keine Ahnung.« Tom schob sich ein Stück an der Wand hoch und stöhnte.
    »Hast du Schmerzen?«, fragte ich.
    »Halb so wild«, antwortete er.
    »Darf ich mal sehen?«, fragte ich weiter.
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    »Lass mich in Ruhe.«
    In diesem Moment wusste ich, dass Jurij nicht abgehauen war. Vielleicht war es die Art, wie Tom mit mir redete. Vielleicht war es sein Blick, der irgendwie leer war. Leer und gleichgültig. Die beiden hatten miteinander gekämpft. Tom hatte Jurij besiegt. So weit glaubte ich ihm. Aber dann? Was war dann geschehen?
    Tom durchbrach das Schweigen. »Morgen hauen wir ab«, sagte er. »Gleich morgen früh.«
    »Wohin?«
    »Nach

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