Novemberschnee
»Dieser Russe?«
»Jurij war kein Russe«, sagte ich wütend. »Er war Deutscher. Wie Sie und ich.«
»War?«
Der Doktor brauchte nicht alles zu wissen. Ich war ihm dankbar, dass er so einfach mitgekommen war. Aber damit hatte es sich. Wortlos kniete ich mich neben Tom und wischte ihm den Schweiß von der Stirn. Wie er so dalag, sah er ganz friedlich aus. Aus seinem Gesicht war die Kälte der letzten beiden Tage verschwunden.
»Tom!«, rief ich.
»Er hört dich nicht«, sagte der Arzt.
»Tom!«, rief ich ein zweites Mal.
Jetzt bewegten sich einige Muskeln in Toms Gesicht und er schlug die Augen auf. Sie glänzten fiebrig. Aber er erkannte mich. »Lina«, sagte er kaum hörbar.
Ich streichelte ihm übers Haar. »Du kommst ins Krankenhaus«, sagte ich. »Der Krankenwagen ist schon unterwegs. Es wird alles gut. Halt durch, Tom. Bitte!«
Er verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Alles gut?«, murmelte er. Dann schloss er wieder die Augen. Er hatte seine Hand auf meinen Unterarm gelegt und hielt ihn fest. Ich spürte seinen Puls hastig und unregelmäßig schlagen.
»Er wird sterben«, sagte ich zu dem Doktor. »Warum geben Sie es nicht zu?«
Der ließ die Zigarette auf den Boden fallen und trat sie mit dem Absatz aus. »In der Medizin ist nichts vorhersehbar«, sagte er. »Dein Tom hat bestimmt keine guten Aussichten. Aber er ist ein kräftiger Junge. Vielleicht schafft er es ja.«
13.
Sirenen waren zu hören. Sie kamen näher, brachen plötzlich ab. Während ich bei Tom blieb, lief der Doktor hinaus. Wenig später kam er mit zwei Sanitätern und einem Notarzt zurück. Sie seien auf dem Weg durch den Wald mit dem Wagen in einer Schneewehe stecken geblieben, schimpfte einer der beiden Sanitäter. Hinter der Besatzung des Rettungswagens betraten vier Polizisten in Uniform und zwei Männer in Zivilkleidung die Kammer. Sie bildeten einen engen Kreis um Tom und mich. Sechs Polizisten gegen einen schwer verletzten Jungen und ein Mädchen! Da konnte ja nichts mehr schief gehen.
Nach einer kurzen Untersuchung durch den Notarzt betteten die Sanitäter Tom vorsichtig auf eine Trage, deckten ihn mit einer dicken Wolldecke zu und schnallten ihn fest. Dann hoben sie ihn hoch und trugen ihn hinaus.
»Darf ich mit?«, fragte ich.
Der Notarzt zuckte mit den Schultern und blickte zu den Polizisten hinüber.
»Du bleibst hier«, sagte der kräftigere der beiden Männer in Zivil. »Dich brauchen wir noch.«
Doktor Schmidt packte seine Sachen zusammen. »Ich muss los«, sagte er und gab mir zum Abschied die Hand.
»Danke, dass Sie mitgekommen sind. Hätte bestimmt nicht jeder getan«, sagte ich und fragte: »Warum haben Sie die Polizei alarmiert?«
»Habe ich nicht«, antwortete der Arzt. »Bei Schussverletzungen machen sie das in der Rettungsleitzentrale automatisch.«
Nachdem der Doktor gegangen war, redete der Mann in Zivil mit den Uniformierten. Ich hörte, wie er ihnen den Auftrag gab, sich im Haus und auf dem Gelände umzuschauen. Dann stellte er sich vor: »Ich bin Kommissar Hertel von der Kripo. Und du bist Lina Marx, wenn ich mich nicht irre.«
Ich nickte.
»Den sie gerade rausgebracht haben, müsste dein Freund Tom Gatow sein.«
Wieder nickte ich.
»Und wo ist der Dritte? Dieser Jurij Holzmann?«
»Tot. Erschossen.«
»Von wem?«
»Von Tom. Aber es war ein Unfall. Sie haben sich gestritten und da ist es passiert.«
Der Kommissar schaute sich um. »Wo ist Jurij?«
»Ich weiß es nicht. Tom hat ihn irgendwann rausgeschafft.«
In diesem Augenblick kam einer der Uniformierten in den Raum zurück und flüsterte dem Kommissar etwas ins Ohr.
»Sie haben den Russen gefunden«, sagte der zu mir.
»Er war kein …«, begann ich und brach ab. Russe oder Deutscher – das machte jetzt wirklich keinen Unterschied mehr. »Darf ich Jurij sehen?«, fragte ich.
Er zuckte die Achseln. »Wenn du unbedingt willst. Ist bestimmt kein schöner Anblick.«
Ich folgte ihm hinters Haus. Dort gab es einen Bretterverschlag, der aussah, als seien in ihm Wachhunde gehalten worden. In der Nacht hatte ich hier nachgeschaut, aber in der Dunkelheit nichts erkennen können. Neben dem Verschlag lag Holz zu großen Stapeln geschichtet. Zwischen diesen Stapeln standen die Polizisten und beugten sich über einen Körper, von dem man nur nachlässig den Schnee entfernt hatte. Hose und Schuhe waren immer noch von einem schmutzigen Weiß.
»Lasst uns mal durch«, sagte der Kommissar.
Jurijs Körper war steif gefroren, seine Jacke
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