Novemberschnee
wären wir seit Wochen unterwegs.
Der Arzt stellte seinen Wagen vor dem Hinweisschild zur Alten Mühle ab und stieg aus. Den Rest müssten wir zu Fuß gehen, sagte er. Sein Auto habe keinen Vierradantrieb, hinterher bleibe es noch stecken. Außerdem sei es ja nicht weit. Als Kind sei er mit seinen Eltern sonntagnachmittags oft hier gewesen, er habe diese Spaziergänge gehasst. Seitdem kenne er sich aber im Wald ganz gut aus.
Schweigend stapften wir durch den Schnee. Ich hatte inzwischen Übung darin, der Doktor nicht. Alle paar Meter blieb er stecken und musste sich an mir festhalten, um nicht hinzufallen. Die Äste der Tannen hingen noch tiefer herunter als am frühen Morgen, an freien Stellen türmten sich meterhohe Schneewehen. Doch es hatte wieder aufgehört zu schneien, am Himmel waren erste blaue Flecken zu sehen. Auch die Kälte und der Wind hatten nachgelassen. Trotzdem behielt ich die Kapuze auf. Der Arzt brauchte nicht zu wissen, wie ich ohne aussah.
Das Haus schaute uns genauso abweisend entgegen wie in dem Moment, als ich von meiner Wanderung zur Raststätte zurückgekehrt war.
»Das sieht hier ja schrecklich aus«, sagte der Doktor und blieb stehen. »Bis vor zehn Jahren war das ein tolles Lokal. Bei gutem Wetter standen die Leute vor dem Eingang Schlange, weißt du. Der letzte Besitzer konnte nicht mit Geld umgehen, der hat den Laden völlig runtergewirtschaftet. Sehr schade.«
Ich fasste den Doktor am Armel. »Kommen Sie«, sagte ich und zog ihn vorwärts. Was interessierten mich seine Geschichten, jetzt ging es um Tom.
Der lag in der düsteren Kammer, wie ich ihn verlassen hatte. Seine Augen waren geschlossen, er reagierte auch nicht, als ihn der Arzt mit einer zierlichen Taschenlampe anleuchtete, wie ich sie von Halsuntersuchungen kannte.
»Vorhin hat er noch mit mir gesprochen«, sagte ich.
Der Doktor öffnete wortlos seine Tasche und begann mit der Untersuchung. Puls, Blutdruck, was weiß ich. Schließlich schob er Tom den blutverkrusteten Pullover hoch. Die Schussverletzung schien ihn zu erschrecken. Im Schein der Taschenlampe sah ich, wie er heftig schluckte. Dabei hatte ich bis zu diesem Augenblick angenommen, Ärzte könnte nichts erschüttern.
»Das ist also das Problem mit seinem Bauch«, murmelte er. »Was ist passiert?«
»Jemand hat auf ihn geschossen.«
»Wer?«
Ich schwieg.
»Wann?«
»Gestern.«
»Und da bist du erst heute Morgen zu mir gekommen?«
»Helfen Sie ihm. Bitte!«
Der Arzt holte eine Schere aus seiner Tasche und schnitt vorsichtig das T-Shirt auf. In Höhe des Einschusses war es zerrissen. Der Doktor entfernte den Stoff in einem großen Kreis um die Wunde herum und säuberte sie mit Alkohol. Wenn er mich gebeten hätte ihm zu helfen, hätte ich es getan. Beim Zusehen spürte ich nicht den geringsten Ekel.
Tom schien von der Arbeit des Arztes nichts mitzubekommen, er verzog nicht einmal das Gesicht.
»Wie sieht es aus?«, wollte ich wissen.
Der Doktor verband die Wunde, deckte Tom zu und richtete sich auf. »Er muss sofort ins Krankenhaus. Er hat viel Blut verloren.«
»Ich meine, wird er es schaffen?«, fragte ich.
Jetzt holte der Doktor ein Handy aus der Tasche seiner Felljacke und tippte eine Nummer ein. »Doktor Schmidt hier. Schickt bitte einen Rettungswagen in die Alte Mühle. – Wie bitte? – Ja, genau dahin. – Herrgott, ich weiß, dass das Haus nicht mehr bewirtschaftet wird! – Ein Schwerverletzter. – Schusswunde. – In einer halben Stunde? Seid ihr verrückt? – In Ordnung, bis gleich. Sie fahren sofort los«, sagte er zu mir.
»Wird Tom es schaffen?«, wiederholte ich meine Frage. »Bitte, Sie müssen es mir sagen!«
Der Arzt steckte sich eine Zigarette in den Mund. »Du auch eine?«, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf.
»Es sieht nicht gut aus«, sagte er dann. »Gar nicht gut. Der Schusskanal ist entzündet. Ob und wie stark innere Organe verletzt sind, müssen sie im Krankenhaus feststellen.«
»Wird er …« Ich schluckte. »Wird er sterben?«
»Sterben?« Der Arzt zog die Schultern hoch und blies den Rauch seiner Zigarette an die Kammerdecke. »Ich hoffe nicht. Wie heißt du eigentlich?«
»Lina.«
»Richtig, Lina. Ihr habt die Bank überfallen. Stimmt’s?«
Ich erschrak. Der Mann hatte mich trotz meiner Kapuze erkannt. »Welche Bank?«, fragte ich, so unschuldig ich konnte.
»Ich habe eure Bilder gestern in der Zeitung gesehen. Ihr seid die Fahrradbande. Wo ist eigentlich der Dritte?«, wollte der Doktor wissen.
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