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Novemberschnee

Novemberschnee

Titel: Novemberschnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Banscherus
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heruntergefallen, an keinem der Häuser blätterte der Putz ab. Die Leute hinter den heruntergelassenen Jalousien schliefen tief und hatten keine Ahnung, dass es noch was anderes gab. Eine Welt, die schmutzig war und kaputt, total kaputt.
    Auf mein Klingeln tat sich lange nichts. Ich wollte schon ein zweites Mal auf den goldenen Knopf neben dem marmorgefliesten Eingang drücken, da hörte ich Schritte, im Hausflur ging das Licht an. Schließlich drehte sich ein Schlüssel und die Tür öffnete sich, zunächst nur einen Spaltbreit, dann ganz. Vor mir stand eine junge Frau im Bademantel. Sie war ungeschminkt, die langen schwarzen Haare hatte sie mit einem Band zusammengebunden. Ihrem Gesicht nach zu urteilen, schien sie von meinem Besuch nicht gerade begeistert zu sein.
    »Die Praxis macht erst um …«, begann sie.
    »Meinem Freund geht es sehr schlecht«, unterbrach ich sie. »Er hat hohes Fieber. Bestimmt über vierzig.«
    »An einer Grippe stirbt man nicht«, sagte die Frau. »Komm um halb neun wieder.«
    Ich rührte mich nicht von der Stelle. »Er hat keine Grippe«, sagte ich. »Es ist was mit seinem Bauch, irgendwas Gefährliches. Bitte, er braucht Hilfe!«
    Die Frau zog ihren Bademantel am Hals zusammen und schaute mich prüfend von oben bis unten an. Ich schämte mich für meine dreckige Hose, die fettigen Haare und die Flecken auf dem Anorak. Aber ich konnte es nicht ändern.
    »Komm rein«, sagte sie schließlich. »Geh schon mal ins Wartezimmer. Ich sage meinem Mann Bescheid.«
    Ich wartete. Die Wärme in dem Raum mit den geflochtenen Schwingstühlen machte mich schläfrig, immer wieder fielen mir die Augen zu. Sie werden es nicht glauben, ich kam gar nicht auf die Idee, dass die Frau die Polizei rufen könnte und dass ich hier in der Falle saß. Ich war einfach zu müde für solche Gedanken. Auf einem großen Poster neben der Tür war der Ayers Rock bei Sonnenaufgang zu sehen. Der Fels leuchtete in einem wunderbar warmen Rot. Schon wieder Australien – war das Zufall?
    Dann öffnete sich die Tür zum Sprechzimmer. Ein Mann in Jeans und kariertem Hemd kam auf mich zu. Seine Haut war gebräunt, im linken Ohrläppchen steckte eine kleiner Edelstein. Der Arzt schien im Alter meines Vaters zu sein.
    »Entschuldige, dass ich dich habe warten lassen«, sagte er und gab mir die Hand. »Ich hatte Notdienst, bin gerade erst ins Bett gekommen.«
    Er setzte sich an einen leer geräumten großen Schreibtisch, ich hockte mich auf den Stuhl davor.
    »Meinem Freund geht es nicht gut«, sagte ich.
    »Was hat er?«
    »Irgendwas ist mit seinem Bauch«, antwortete ich. »Er spuckt Blut und hat hohes Fieber.«
    »Phantasiert er auch?«
    »Ein bisschen.«
    Der Arzt schaute mich schweigend an. »Warum setzt du die Kapuze nicht ab?«, fragte er.
    Ich zuckte mit den Schultern. Was hätte ich ihm antworten sollen? Dass ich nicht erkannt werden wollte? Dass mein Bild inzwischen bestimmt in jeder Polizeiwache hing?
    »Also gut«, sagte der Arzt. »Ich komme mit. Wo ist dein Freund?«
    »In der Alten Mühle.«
    Der Arzt dachte nach. Dann verzog sich sein Gesicht zu einem ungläubigen Staunen. »Ist das nicht das Ausflugslokal an der Bundesstraße?«, fragte er.
    Ich nickte.
    »Aber … ich dachte … hm, das ist doch schon lange geschlossen«, sagte er.
    »Bitte, helfen Sie uns«, sagte ich. »Ich werde Ihnen alles erklären. Später.«

12.
    Dann saßen wir im Auto. Der Arzt hatte eine dicke Felljacke angezogen und eine Kappe mit gefütterten Ohrenschützern aufgesetzt. Hinter sich auf dem Rücksitz stand sein Arztkoffer. Im Wagen roch es nach Medikamenten und einem ziemlich starken Parfüm. Während wir den Ort verließen, schaute er mich immer wieder von der Seite an. Er fuhr vorsichtiger als die freundliche alte Frau, die mich zu ihm gebracht hatte. In den zahlreichen Kurven auf dem Weg zur Alten Mühle nahm er das Tempo stark zurück.
    Irgendwann brach er das Schweigen. »Du und dein Freund – ihr seid abgehauen. Stimmt’s?«
    »Ja.«
    »Warum seid ihr von zu Hause weg?«
    »Das kann ich Ihnen nicht sagen.«
    »Du willst es nicht.«
    »Mhm.«
    Er griff ins Handschuhfach und reichte mir einen Schokoriegel. »Hier, du hast sicher Hunger.«
    Danach sprachen wir nicht mehr. Der Arzt konzentrierte sich auf die nach wie vor schneeglatte Straße und den immer dichter werdenden Verkehr, ich lehnte mich in meinen Sitz zurück und schloss die Augen. Zwei Tage waren seit unserer Flucht aus dem Steinbruch vergangen. Mir kam es vor, als

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