Novemberschnee
sah aus wie bei einer Skulptur. Seine geöffneten Augen schauten nirgendwo hin, in ihnen lag ein erstaunter Ausdruck. Die Polizisten machten Platz, ich kniete mich neben Jurij und fuhr ihm mit der bloßen Hand über die Stirn. Sie erinnerte mich an Marmor.
Sie möchten sicher wissen, was ich in diesem Moment gefühlt habe. Meine Antwort wird Sie schocken: Nichts, ich hab nichts gespürt. Da lag nicht der Jurij, den ich gekannt und den ich so sehr gemocht hatte. Da lag etwas vollkommen Fremdes vor mir, etwas, das so weit von mir entfernt war wie der Mond. Ich hab nicht geweint, ich war nicht mal traurig. In meinem Hals steckte etwas, das alles verstopfte, das mich zu Stein werden ließ, ja, das ist der richtige Ausdruck.
»Und?«, fragte der Kommissar seinen Kollegen in Zivil.
»Ins Herz geschossen«, antwortete der. »Aus nächster Nähe.«
»Kampfspuren?«
Der Mann schüttelte den Kopf.
»Überhaupt keine?«, fragte der Kommissar und schaute mich erstaunt von der Seite an.
»Prellungen am Knie«, antwortete der Mann. »Aber die sind vielleicht schon ein bisschen älter.«
»Jurij ist mit dem Fahrrad gestürzt«, mischte ich mich in das Gespräch. »Als wir abgehauen sind.«
»Können wir den Jungen wegbringen lassen?«, fragte der Mann.
»Natürlich«, antwortete der Kommissar. Dann nahm er mich am Arm und führte mich vors Haus. Die Sonne war zwischen den Wolken hervorgekommen und verwandelte den Wald, den Mühlbach und die Lichtung in eine Märchenlandschaft. Ich schloss die Augen und spürte die Wärme auf meiner Haut. Eigentlich hätte ich Angst haben müssen. Vor dem, was mich erwartete, meine ich. Aber in mir war nichts als Erleichterung. Es war vorbei, endlich hatte der Wahnsinn ein Ende.
»Wissen deine Eltern Bescheid?«, fragte der Kommissar. »Sollen wir sie benachrichtigen?«
Ich öffnete die Augen. »Darf ich denn nicht nach Hause?«, fragte ich zurück.
»Nein. Wir müssen dich mitnehmen. Immerhin habt ihr eine Bank überfallen«, antwortete er.
»Haben wir nicht!«
Der Kommissar lächelte. »Ihr wurdet beobachtet. Wir haben jede Menge Zeugen, so viele hätten wir gern immer. Und dein Tom ist gefilmt worden. Von der Überwachungskamera in der Sparkasse. Außerdem seid ihr nach dem Überfall abgehauen. Seit wann haut einer ab, der unschuldig ist? Kannst du mir das erklären?«
»Wir wollten die Bank gar nicht überfallen!«, rief ich. »Es war ein Spiel! Das müssen Sie mir glauben!«
Bevor der Kommissar etwas sagen konnte, klingelte sein Handy. Er nahm es ans Ohr und hörte zu, was ihm jemand erzählte.
Dann wandte er sich an mich. »Er ist tot«, sagte er.
»Tom?«
Er nickte. »Er ist auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Sie haben ihm nicht mehr helfen können.«
Tom und Jurij tot – das war unmöglich, so was gab es bloß in schlechten Filmen! War es wegen mir passiert, weil Jurij auf Tom eifersüchtig gewesen war? Konnte es doch einfach nicht gut gehen mit zwei Jungen und einem Mädchen? Hätte mir das nicht viel früher klar sein müssen?
Auf meine Fragen würde ich keine Antwort erhalten, niemals. Die, die es mir hätten sagen können, waren beide tot.
Ich griff in meine Anoraktaschen, holte die Geldscheine heraus und gab sie dem Kommissar. Ein paar Scheine flatterten auf den Boden, er hob sie auf. »Es fehlen zweihundert Mark«, sagte ich. »Ich hab sie fürs Einkaufen gebraucht.«
Der Kommissar steckte die Scheine in einen durchsichtigen Plastikbeutel. »Wie kommst du an das Geld?«, wollte er wissen.
»Tom hat es mir gegeben.«
»Er hat es dir gegeben?«, fragte der Kommissar ungläubig. »Einfach so?«
»Ja. Einfach so.«
»Na, das kannst du mir alles ausführlich im Präsidium erzählen«, sagte er.
Ich schnappte nach Luft. »Heißt das … bedeutet das … ich bin verhaftet?«, fragte ich.
Der Kommissar nickte. »Wegen des Bankraubes«, antwortete er. »Und wegen des Verdachts des Mordes an deinen beiden Freunden.«
In diesem Moment bin ich wohl umgefallen, ich hab keine Erinnerung mehr. In einem Krankenwagen kam ich zu mir. In meinem Arm steckte eine Kanüle, über mir hing eine Infusionsfla sche, aus der eine durchsichtige Flüssigkeit tropfte. Am Ende der Trage saß ein Polizist und kaute hingebungsvoll an seinen Fingernägeln. Ein Mann in orangeroter Jacke beugte sich über mich und tätschelte mir die Backe.
»Hallo«, sagte er freundlich.
Ich versuchte zu sprechen, es strengte mich unheimlich an. »Was ist passiert?«, fragte ich.
»Du
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