Novizin der Liebe
beten, würde schwer werden. Und was Ruhe und Frieden betraf, so ging es in der normannischen Garnison gesitteter zu als in Sankt Swithuns Kirche! Die Luft war weihrauchgeschwängert, Gehstöcke und Krücken klapperten auf den Steinplatten, Priester sangen einen lateinischen Psalm. Eine Glocke ertönte. Eine junge Frau hatte den Arm um die Taille ihres jungen Begleiters gelegt und kicherte über die offenbar anzüglichen Scherze, die er ihr zuraunte, eine andere zischte ihrer schwerhörigen Großmutter geräuschvoll etwas ins Ohr, und ein kleiner Hund – ein Hund? – winselte, als einer der Pilger über ihn stolperte …
Von Judhael dagegen keine Spur. Nicht die geringste. Angerempelt und gestoßen von Neuankömmlingen hinter ihr, wurde Cecily langsam und unaufhaltsam in das düstere Kirchenschiff gedrängt. Ein paar Hundert Menschen, vielleicht mehr, standen Schlange, um am Grab des heiligen Swithun vorüberzugehen. Mutter Aethelflaeda wäre entsetzt gewesen ob des Mangels an Respekt und Anstand.
„Kerze gefällig, Schwester?“, fragte ein Priester und hielt ihr eine unter die Nase. „Damit Eure Gebete leichter zum Herrn emporsteigen.“
Cecily schüttelte den Kopf, während sie sich an ihm vorbeidrängte. „T…tut mir leid, ich habe kein Geld.“ Gott wird meine Gebete ohne die Hilfe einer Kerze erhören müssen, dachte sie bekümmert. Hätte sie Geld gehabt, hätte sie drei Kerzen gekauft: eine für ihre Mutter, eine für ihren Vater und eine für ihren Bruder Cenwulf.
Der Strom der Pilger schob sich unaufhaltsam vorwärts, und Cecily wurde mitgerissen wie ein Strohhalm im Fluss, bis vor den Schrein des heiligen Swithun, wo Kranke und Sorgenbeladene um himmlischen Beistand beteten.
So viele Wunder müssen hier bereits geschehen sein, ging es Cecily durch den Kopf, und in der Hoffnung, dass auch ihre Bitten erhört würden, nutzte sie die wenigen Augenblicke, die ihr vor dem Grab des Heiligen vergönnt waren, zum Gebet, ehe sie von den nachfolgenden Pilgern fortgedrängt wurde.
Noch immer keine Spur von Judhael. Nicht bereit, zu jenem fremden Ort zurückzukehren, in den sich der einstige Königspalast verwandelt hatte, brach Cecily aus der Reihe der Pilger aus, die sie in Richtung des Nordportals drängten. Vielleicht war es im östlichen Teil der Kathedrale ruhiger.
Nahe dem Querschiff trennte ein mit üppigen Schnitzereien verzierter hölzerner Sichtschutz die Masse der Gläubigen von den Bischöfen und Priestern und ihres Chors. Cecily wusste, dass sie den geheiligten Bezirk jenseits dieser Trennwand nicht betreten durfte, und kniete stattdessen an einer mit prächtigen Laubschnitzereien versehenen Stelle nieder. Sie schloss die Augen und faltete die Hände zum Gebet, um Kraft zu sammeln für das, was vor ihr lag.
Gerade war sie im Begriff, sich zu erheben, als von der anderen Seite der Chorschranke ein heimliches Streitgespräch an ihr Ohr drang.
„Nein, es tut mir leid. Ich habe es einfach nicht übers Herz gebracht!“
Eine Frau im Chorgestühl der Priester? Eine Frau, deren Stimme genauso klang wie die ihrer Schwester Emma? Unmöglich! Mit heftig pochendem Herzen und überzeugt davon, sich zu irren – schließlich hatte Emma ihr versichert, sie wolle nach Norden reiten –, lauschte Cecily angestrengt auf mehr. Es war nicht leicht, Gewissheit zu erlangen, denn die Stimme der Frau klang wutverzerrt und war aufgrund der Trennwand und des Lärms der Pilger im Kirchenschiff nur gedämpft zu hören.
„Du bist eine Närrin!“ Eine zweite Stimme, barsch, unduldsam und viel einfacher zu verstehen. Eine männliche Stimme – ja, kein Zweifel. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich. Judhael?
„Es war nicht möglich.“ Emma – das musste Emma sein …
„Du bist schwach!“
„Mitfühlend wohl eher.“
Der Mann schwieg eine Weile, und Cecily hörte nur noch das Beten der Pilger, das Geklapper der Krücken auf dem Steinboden, das Singen der Priester. Sie dachte hastig nach. Also hatte sie sich vorhin auf dem Marktplatz nicht getäuscht – es war tatsächlich Judhaels Stimme gewesen. Einst war sie ihr so vertraut gewesen wie die ihres Vaters oder Bruders. Judhael war am Leben! Einer der Leibwächter ihres Vaters und Cenwulfs engster Freund. Cecily hatte angenommen, dass auch er in der Schlacht von Hastings gefallen war. Sie wollte ihn sehen, sich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass er lebte, verzichtete jedoch darauf, weil sie fürchtete, damit die Aufmerksamkeit der Normannen auf sich zu
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