Nox Eterna - Die ewige Nacht der Anne Oxter
gab Gerüchte über Silly und Matthew als neues Paar, die sich aber abends am Kaminfeuer als unwahr erwiesen, denn Matthew führte romantische Gespräche mit Tina Thornton, seiner Freundin, die in dieser Position niemals gefährdet war. Silly war weiterhin solo.
Brett- und Rollenspiele, alkoholische Entgleisungen im Rahmen der pädagogischen Gepflogenheiten, an denen auch Anne sich beteiligte; das alles waren unterhaltende Beiläufigkeiten, die ihre bedrückenden Gedanken nicht vertreiben konnten. Auch das dritte Glas Glühwein konnte nicht helfen – sie vermisste Alan. Warum eigentlich? Einfach, weil er zuhause immer da war und jetzt nicht?
Zum Glück hatte sie Puck einschmuggeln können. Als hätte er geahnt, dass er ein blinder Passagier war, hatte er die ganze Zeit innen in ihrer weiten Windjacke gelegen und geschlafen. Nur wenn man genau hinsah, konnte man seinen kleinen Körper unter dem glatten Stoff ahnen. Aber niemand hatte etwas bemerkt. Silly wusste, dass Puck dabei war, und Silly, die sonst redete wie ein Wasserfall, konnte schweigen wie ein Grab. Wenn Anne über diesen Zusammenhang nachdachte, überlegte sie wieder, Silly in ihr großes Geheimnis einzuweihen, konnte sich aber nicht zu einer Entscheidung durchringen. Morgen vielleicht, redete sie sich vor dem eigenen Gewissen heraus.
Nein, Nox hatte nicht im Traum daran gedacht, zuhause zu bleiben – ein Traumwesen, das nicht im Traum an etwas denkt …
Schlimmer noch: Wenn Anne sich einmal allein auf den Weg hinaus in die Wildnis gemacht hatte, hatte sie Besuch von Nox – kurze Gedankenblitze, die nicht aus ihrem eigenen Gehirn zu stammen schienen, wirre Einsprengsel in ihre alltägliche Welt, meist aufscheinende Schreckensbilder, Gesichter und Gesten, Vorzeichen wie schnelle Schnitte in einem Dark-Metal-Video.
Auch Eindrücke ihres realen Lebens mischten sich hinein, immer wieder tauchten Silly und Alan auf, ihre Eltern, Räume in der Schule und die Zimmer ihrer Freunde. Wenn es zu schlimm wurde, kehrte Anne um und fand Ruhe im Lärm ihrer Mitschüler. Diese neue Situation beunruhigte sie – wohin konnte sie noch fliehen?
29. März 2010
Auf einer Wanderung passierte dann die Sache mit der Brücke über die Corrieshalloch-Klamm, eine wirklich winzige, schwankende Brücke, die immer nur sechs Personen gleichzeitig betreten durften. Natürlich war dieses Ereignis die Sensation des Tages. Einzelne, besonders wagemutige Schüler testeten die Brücke, wackelten, die Hände an den beiden Führungseilen, wild darauf herum, sie warfen sich gegenseitig Feigheit vor und prahlten mit dem eigenen Mut. Mrs. Dinkle hatte große Probleme, die Ordnung auch nur halbwegs wiederherzustellen. Schließlich hatten sich Gruppen formiert, die ordnungsgemäße Überquerung der Brücke konnte ihren Lauf nehmen.
Die erste Gruppe passierte unter Gejohle den Übergang, trappelnde Füße auf den Holzbohlen, Mädchen kreischten, Schreie, irgendwo zwischen Lust und Angst. Sie mischten sich mit dem Donnern des Frühjahrshochwassers, die
Falls of Measach stürzten sich unter den Wanderern in die Schlucht
.
Die ersten fünf Personen von Annes Gruppe liefen los, der Lärmpegel nahm nicht ab. Anne ging als letzte, zögerte lange, versuchte zwei oder drei Schritte, die Brücke unter ihr schwankte, der Anblick war mehr als schwindelerregend. Sie konnte nicht weitergehen, klammerte sich an die Laufseile, kämpfte sich zwei oder drei Schritte vor, dann langsam wieder zurück. Sie war sich sicher: Sie würde nie über diese Brücke gehen können. Silly, die schon fast die andere Seite der Brücke erreicht hatte, lief zurück, war neben ihr, stützte sie, führte sie rückwärts auf festen Boden.
Millie Mason und die anderen der ersten Gruppe sahen von der anderen Seite der Schlucht zu, fuchtelten mit den Armen, sprangen auf und ab und riefen Anne und Silly irgendetwas zu, dass aber im Getöse des Wassers unterging. Es konnten nicht diese Worte sein, die Anne das Gefühl gaben, klein, hilflos und zu einer solchen simplen Sache unfähig zu sein. Es war der Ausdruck ihrer Gesichter, voller unverhohlener Schadenfreude, der Anne aufs tiefste traf. Die Hauptdarstellerin dieses widerwärtigen Tanzes war Millie Mason, die wie ein Derwisch auf der Brücke hin- und her hopste und immer wieder dasselbe rief.
„Weichei! Weichei!“ las Anne von ihren Lippen. Nein, sie würde nicht über diese Brücke gehen.
Am Abend, die Wanderung war wegen Anne
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