Nox Eterna - Die ewige Nacht der Anne Oxter
und Geräusche, das Ächzen der Balken, berstendes Gemäuer, klirrendes Glas. Scharf wie Kristall zeichneten sich die Bilder in ihren Augen, die Luft voller Holzsplitter, Steinbrocken und Funkenbahnen. Pfarrer Liffles’ leise Stimme holte sie in die Wirklichkeit zurück.
„Komm, mein Kind, ich bringe dich nach Hause!“ Er blickte beruhigend den Arm um ihre Schulter. „Gott schützt uns, uns wird nichts geschehen.“
9. September 2010
In diesem Punkte irrte der Pfarrer. Einen Tag später geschah es doch. Der Gottesdiener erlebte die Katastrophe aus der ersten Reihe: Er war zu einem Besuch hinüber in den Archbishop’s Palace gegangen, um Gespräche über die anstehenden Renovierungsarbeiten seiner Kirche zu führen, um deren Baufälligkeit sich vor allem viele ältere Mitglieder seiner Gemeinde große Sorgen machten. Seinen Worten folgten unerwartet handfeste Beweise. Ein dumpfes Grollen lenkte die Augen der beiden Kirchenmänner zu den alten Fenstern des Bischofspalastes, und Pfarrer Liffles und der Erzbischof erlebten als unmittelbare Zeugen mit, was lange gedroht hatte: das Dach des Mittelschiffs der über 600 Jahre alten Kirche stürzte ein. Balken barsten, Gewölbe verloren ihre tragenden Kräfte, ein Steinhagel prasselte herab.
Das Doppelportal der Kirche wurde aufgerissen, Menschen rannten schreiend aus dem Gebäude, von innen war ein geradezu biblisches Jammern und Klagen zu hören. Das steinerne Kreuz vom Giebel über dem Portal zitterte, neigte sich langsam und kippte in den Innenraum des Gebäudes. Pfarrer Liffles und der Bischof wurden Zeugen eines furchtbaren Unglücks: Sam Grody, der Küster der Gemeinde und Vater dreier Kinder, wurde von den Steinbrocken erschlagen, zahlte für seinen unermüdlichen Dienst an Gott und der Kirche mit dem Leben. Eine helle Staubwolke stieg über dem Mittelschiff empor und bedeckte die Szenerie wie mit einem Leichentuch.
Der Körper des Verunglückten lag da im Portal wie eine herabgefallene Sandsteinstatue, aber in seltsam verdrehter Haltung. Dunkelrote Flecken durchdrangen die mit Staub bedeckte Oberfläche des Körpers, wurden größer und größer und zeigten den Irrtum des Betrachters. Nein, dies war keine Statue aus der Kirche. Sam Grody war tot.
Mehr Staub und Steine rieselten herab, legte sich auf den Vorplatz der Kirche. Nach wenigen Sekunden fielen nur noch einzelne Brocken, das Unheil hatte seinen Verlauf genommen.
„Eindrücklicher hätte uns der Herrgott die Notwendigkeit einer Renovierung dieser Kirche nicht vorführen können!“ sagte Pfarrer Liffles. „Manchmal greift er da oben offenbar zu ziemlich drastischen Mitteln!“
„Theodor, mäßige dich! Ich muss doch bitten!“ Der Erzbischof fand Liffles’ Bemerkung mehr als unpassend. „Geh und sieh nach den Mitgliedern deiner Gemeinde, wie es sich für einen Pfarrer gehört.“
„Äh ja, natürlich, sofort!“ Der Pfarrer erwachte wie aus sekundenlanger Erstarrung, Sein Vorgesetzter hatte Recht, schließlich war ja wohl mindestens ein Mitglied seiner Gemeinde zu Schaden gekommen. Er lief hinüber zur Kirche, um zu helfen und die weiteren Folgen des Unglücks festzustellen. Sirenen waren zu hören, Rettungswagen mit Blaulicht fuhren heran. Der Notarzt konnte nur noch feststellen, was offensichtlich war: Der Körper von Sam Grody wurde in einen Sarg gelegt und in einen Leichenwagen getragen.
„Sie hat es kommen sehen!“ sagte die Frau des Küsters unter Tränen. „Ich war dabei, neulich morgens in der Kirche! Sie hat Visionen!“
„Eine Heilige!“ flüsterte jemand.
„Eher ein Hexe!“ sagte Millie Mason laut und deutlich und scheinbar ohne jede weitere Regung. Auch sie hatte von dem Vorfall in der Morgenmesse gehört und stand nun zwischen den Schaulustigen „Was sie ihrem Freund Alan angetan hat, ist … Und jetzt Grody – im Haus Gottes!“
Es war ausgesprochen, was viele dachten, was Anne selbst gedacht hatte, ohne es sich einzugestehen, was aber nicht sein konnte, weil es keine Hexen gab und weil sie nicht mehr und nicht weniger Böses in sich vermutete als in jedem anderen Menschen und weil sie nicht mehr aushalten konnte, was die dunkle Existenz in ihr ihrem guten Wesen antat und den Menschen, mit denen sie bisher zusammengelebt hatte. Sie hatte durch einen Traum getötet, gemordet, eine Familie um ihren Vater gebracht. Die Ausrede Zufall glaubte sie sich selber nicht mehr. Sie traute sich nicht einmal mehr, das zu denken.
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