Nox Eterna - Die ewige Nacht der Anne Oxter
Der Zufall war ihre große Lüge gewesen und in diesem Fall standen unendliche Wahrscheinlichkeiten gegen ein zufälliges Ereignis.
Kein Kriminalist auf der Welt würde sie überführen können, aber sie selbst wusste nur allzu gut, was sie geträumt hatte. Das perfekte Verbrechen, von einem Traum aus gesteuert, dachte sie verzweifelt, nur mit dem kleinen Fehler, dass die Mörderin es eigentlich nicht begehen wollte, zumindest die eine Hälfte ihrer Person, die jetzt wieder das dringende Bedürfnis verspürte, sich die Hände zu waschen, mit Scheuersand und einer Bürste und lang und immer länger, doch dieser Schmutz, dieses Blut, würde an ihnen haften bleiben.
Die Nacht war furchtbar. Anne fand kaum Schlaf, denn jedes Mal, wenn ihr die Augen zufielen, begrüßte sie die grinsende Fratze von Nox. Erst in den Morgenstunden war sie so müde, dass sie in unruhigem, aber traumlosen Halbschlaf dahin dämmerte.
IX
10. September 2010
Anne hatte sich durch den Tag geschleppt, ein Schatten ihrer selbst, die Menschen gingen ihr aus dem Weg. Das mochte an ihrer nicht eben lebensfrohen Ausstrahlung liegen oder an den Vermutungen, die über sie im Zusammenhang mit dem Kircheneinsturz im Umlauf waren. Sie war zu Alan ins Krankenhaus gefahren, hatte über alles reden wollen, aber ihre Lippen wollten die Worte nicht aussprechen, die sie eines Tages aussprechen mussten. Der Fluch der Stille, dachte Anne.
„Wie geht es dir?“
„Besser. Eigentlich gut. Aber du siehst aus, als ob dich etwas bedrückt …“
„Alles in Ordnung, nur etwas müde.“ Sie hätte sich für diese Lüge ohrfeigen können.
„Hast du von dem Kircheneinsturz gehört?“ fragte Alan.
„So am Rande. Schlimm für die Familie von Sam Grody. Aber lass uns lieber über Angenehmeres reden.“
Reden wir doch lieber über irgendwelche Belanglosigkeiten, verspottete sich Anne innerlich selbst, nehme ich doch lieber mit ins Grab oder ins Irrenhaus, was mich bedrückt. Wie gerne hätte sie gesagt, ich war das, ich stelle mich, ich bin das Scheusal, das Angst und Schrecken über die Menschen bringt, bitte hilf mir, bitte sag mir, was ich tun kann.
Da lag nun der arme, vermutlich durch ihre Schuld verletzte Alan vor ihr, mit genug eigenen Sorgen, aber dennoch offen und neugierig für das, was sie betrübte und bedrückte und sie bekam kein Wort heraus. Nichts von Belang, nur unsäglich bedeutungslosen Wörtermüll. Sie war den Tränen nahe, wollte aber nicht weinen und verließ einen besorgt blickenden Alan deshalb nach viel zu kurzer Zeit.
Sie aß am Abend nichts, lag grübelnd auf ihrem Bett. Die Nacht war mondlos. Anne wollte nicht schlafen, doch das Defizit der letzten Nacht tat seine Wirkung. Sie glitt, kaum dass sie sich niedergelegt hatte, hinüber in das Reich der Träume, das sie nun mehr als je fürchtete.
Nox Eterna betrachtete die Zinnen ihrer Burg. Über die Jahre hatten sie sich verändert, hatten den strahlenden Glanz kalter Bosheit eingebüßt, Türme und Erker zeigten Risse, Mauern waren schief gefallen, das Pflaster der Aufmarschwege ihrer Garde aufgerissen, Pechnasen geschleift, Gargoyles hinabgestürzt. Etliche Scheiben in den Fenstern der Gebäude waren zerbrochen. Die ehemals glänzenden, kunstvollen Glasfenster im Dom des Bösen, einst jedes ein unvergleichliches düsteres Kunstwerk, wirkten jetzt matt und stumpf. Wie kalte resignierte Wut! dachte Anne – und bemerkte, dass sie nicht Nox war, sondern wieder in ihrem alltäglichen Ich in einem ihrer Träume erschien. Sie sah, was sie geahnt hatte, dass die dunkle Seite weder glanzvoll noch erhebend war.
Nox stand neben ihr, keine zwei Schritte entfernt. Sie war ihr schon viele Male im Traum begegnet, als seien sie zwei voneinander getrennte Lebewesen, die sie nicht waren. Nicht sein konnten! Oder nicht sein wollten? Irgendetwas riss in ihrem Kopf, sie schwankte, dunkle Flecken und Funken vor den Augen. Langsam drehte sie sich zu ihrem Alter Ego, schaute ihr in die kalten Augen, die sie fixierten und faszinierten mit einem bösen Blick – dem bösen Blick – bannen wollten. War das der Augenblick der Vereinigung oder besser der Vereinnahmung? War die gute Anne besiegt, würde sie von nun an nur noch Nox, das personifizierte Böse sein können? Anne wand sich, wollte fortlaufen, schloss ihre Lider, doch dieser Blick durchdrang sie mühelos, fraß sich in ihren Verstand, umklammerte ihre Seele. Sie entkam nur, indem sie aufwachte
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