Nox Eterna - Die ewige Nacht der Anne Oxter
Rolle spielen würde.
Sie stieg wieder aufs Rad, brachte eine erneute Meisterleistung des Anschleichens zu Wege, holte ihren Puck samt Käfig und fuhr zurück. Vor der Haustür begegnete ihr ihre Mutter.
„Wo willst du mit Puck hin?“ fragte sie erstaunt.
„War beim Tierarzt“, murmelte Anne. „Er hat so komisch gehustet.“
„Der Tierarzt?“ fragte Annes Mutter erstaunt. „Der auch“, entgegnete Anne, denn sie beide wussten, dass der Dr. Long ein starker Raucher war. Situation gerettet. Lüge, nichts als Lüge, dachte Anne.
X
14. September 2010
Sie hatte das leerstehende Haus in den Highlands auf der Kursfahrt entdeckt, als sie nach der Sache mit der Brücke auf der Flucht vor zu vielen anderen Menschen allein losgewandert war, Pfade gegangen war, die immer schmaler wurden, immer höher hinauf führten, Meilen von der Jugendherberge entfernt. Ein fast menschenleerer, Jahrzehnte alter Zug mit Waggons voller Holzbänke hatte sie und Puck über ratternde Schienen in den Norden getragen, er erreichte am späten Nachmittag sein Ziel.
Ein Taxi mit einem für einen Schotten erstaunlich gut gelaunten und redseligen Fahrer, der sie irgendwie an Alan erinnerte, brachte sie von dem kleinen, fast menschenleeren Bahnhof zur Brücke über die Corrieshalloch-Klamm. Von dort aus hatte sie keine Probleme, den Weg zu ihrer Zuflucht erneut zu finden, und noch immer stand das Haus leer.
Die Tür aus verwittertem grauem Holz hing jetzt schief in den Angeln, aber sie ließ sich mit einiger Anstrengung schließen. Irgendjemand schien in der Zwischenzeit hier gewesen zu sein, die Möbel standen ein wenig anders, gebrauchtes Geschirr stand auf dem Tisch. Anne machte Ordnung. In einem Kasten unter den Tisch fanden sich Kerzen und Streichhölzer. Sie zündete eine Kerze an, wärmte sich an dem Licht. Niemand würde wissen, wo nach ihr zu suchen war, und sie würde erst zurückkehren, wenn ihre Schlacht geschlagen war, wenn klar war, wer zurückkehren würde – Anne Oxter oder Nox Eterna.
Sie fand eine alte, ziemlich stumpfe Axt und hackte Holz, feuerte den Kamin an. Die Arbeit tat ihr gut. Sie trank Wasser, das sie aus einer Quelle am Wege in eine Flasche gefüllt hatte, und aß den Rest Brot, den sie mitgebracht hatte. Morgen würde sie weitersehen, Pilze suchen oder Kräuter und Beeren oder jagen.
Würde sie ein Tier töten können? Nox hätte kein Problem damit, sagte sie sich. Sie war aber dennoch erleichtert, als sie in der Kammer hinter der Küche Vorräte entdeckte, Konserven, Dosenbrot und Nudeln. Puck würde sich vielleicht selbst versorgen. Mäuse gab es hier sicher genug.
Plötzlich war Nox da, sah sie herausfordernd ansah. Sie war nicht durch die Tür gekommen.
„Wir müssen das austragen, ob du willst oder nicht“, sagte Anne. „Stell dich, verdammt noch mal, stell dich.“
Nox grinste.
„Wozu? Warum sollten wir etwas ändern? Es ist gut, wie es ist. Du hast den Tag und ich habe die Nacht.“
„Das muss ein Ende haben“, erklärte Anne möglichst bestimmt, aber es hörte sich eher ängstlich als zuversichtlich an. „Ich muss schlafen und träumen können, ohne dass du Katastrophen produzierst und mein Leben vernichtest. Du benutzt meine Träume, um deine widerwärtigen Bosheiten ausleben zu können.“
„So schlimm?“
Dieses ekelhafte Grinsen, dachte Anne.
„Gut, es gibt ein paar Verwicklungen“, fuhr Nox fort. „Manchmal weißt du nicht, wohin du gehörst, und manchmal weiß ich es nicht … Das klärt sich ganz von allein. Da bin ich sicher! Und es ist ohnehin nicht mehr lange, bis du umziehen wirst – auf meine Seite.“
Hatte sie geträumt, eine Art Tagtraum? Mischte sich Nox unterdessen in ihre Tagesrealität ein, hatte sie Halluzinationen? Egal, darauf musste sie sich jetzt einlassen.
15. September 2010
Dieser Tag wurde einer wie viele folgende. Puck war bei ihr, aber auch Nox. Sie war bei ihr wie nie zuvor, jede Minute. Sie lebte neben ihr und verfolgte sie in ihre Träume, wie sie neben ihr Leben und ihre Träume in den nächsten Tagen beherrschen würde. Sie würde mit ihr essen und neben ihr schlafen – bis zur Stunde der Entscheidung. Können Traumwesen essen und schlafen? fragte sich Anne. Der Tag verging in finsteren Gedanken, nichts geschah, was sie weiter gebracht hätte.
18. September 2010
Drei Tage waren wie im Fluge vergangen. Nox verdarb Anne den Appetit. Sie aß kaum etwas, magerte
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