Nr. 13: Thriller (German Edition)
zu haben. Er sah hilflos aus. Einen Augenblick bröckelte seine Fassade und hinter dem gefassten Mann kam ein Häufchen Elend zum Vorschein. Betreten schwieg er, wohl weil ihm kein Vorwand einfiel.
Er hütete ein Geheimnis, so viel stand für Daniel fest. Kurz vor seinem Unfall musste etwas passiert sein, etwas, das ihn alle Vorsicht vergessen und blind über die Kreuzungen sprinten ließ, etwas Dramatisches, das ihm die Angst und Verzweiflung ins Gesicht getrieben hatte, wie Theo beschrieben hatte.
Plötzlich kam Daniel ein Gedanke. Konnte es sein, dass Haas an besagtem Abend gar nicht nach Hause gewollt hatte, sondern eben erst von dort gekommen war? Wenn das stimmte, wohin hatte er gehen wollen? Vielleicht war der Mann, der ihn laut Theo gejagt hatte, gar kein Verfolger, sondern ein Begleiter. Schäfer, der weise Ratgeber und Anführer möglicherweise, oder Beck als Bodyguard.
Eventuell sogar Vincente, der ihn doch noch herumgekriegt hatte, mit ihm zu kooperieren. Wie hatte er das geschafft? Hatte Quast Haas ein Date mit einem Jungen verschafft, einem, der seinem Sohn ähnlich sah, damit er in Erinnerungen schwelgen konnte? Daniel fand diese Idee schlüssig. Das Kind, hinter dem Stefan Haas hergerannt war, konnte ein minderjähriger Stricher sein, der Haas anhand der Medienberichte erkannt hatte und geflüchtet war, weil er es nicht mit einem Pädophilen treiben wollte.
Nachdenklich zupfte Daniel an seinem gestutzten Kinnbart herum. Das Verhör von Leentje und Friedrich Schuster hatte kurz vor Mittag stattgefunden und sich bis in den frühen Nachmittag hingezogen. Er musste prüfen, ob Vinzent Quast von den Kollegen noch am selben Tag verhaftet wurde oder abends mit Stefan Haas hätte unterwegs sein können.
Daniel entschied sich für einen Frontalangriff. „Wer war das Kind, das Sie verfolgten?“
„Das … welches … das ist doch absurd!“ Stefan Haas’ Augen wurden feucht.
Zuerst war sich Daniel nicht sicher. Vielleicht täuschte er sich auch. Aber als er genauer hinsah, machte er ein Schimmern aus, das ihn überraschte. „Sie wurden dabei beobachtet, wie Sie einen Jungen durch die Straßen trieben.“
„Erst soll ich gejagt worden sein, jetzt bin ich plötzlich der Jäger? Ich bitte Sie.“ Haas’ Stimme klang kratzig, aber er räusperte sich nicht. „Sie sollten die Verlässlichkeit Ihrer Informationsquellen prüfen.“
„Es wird vermutet, dass es sich um einen Jungen handelt.“
„Aber Sie wissen es nicht.“
„Einer, der aussah wie Momo.“
Stefan Haas wollte etwas erwidern, aber es kam nur ein Krächzen heraus. Mit beiden Händen nahm er ein Glas Wasser und trank. „Das war doch ein Mädchen.“
„Mit braunen Locken.“
Hektisch blinzelte Haas, als versuchte er zu verhindern, dass er zu weinen anfing.
„Wie Sie sie haben.“
Haas schaute aus dem Fenster, dabei gab es dort nichts zu sehen, außer dunklen Wolken, die unentwegt Schneeflocken ausspuckten.
„Und Ihr Sohn.“
Mit einem Ruck flog Haas’ Kopf herum. Schrill gab er von sich: „Er ist tot.“
„Ist er das wirklich?“
Das Glas, klein und dickwandig, fiel ihm aus den bandagierten Händen. Es knallte auf den Linoleumboden. Wie durch ein Wunder zerbrach es nicht. Das Wasser spritzte bis zu Daniels Fußstützen.
„Natürlich ist er das!“ Aufgebracht nannte Haas den Namen des Friedhofs und die Grabnummer. Sein Körper bebte. „Er war ein Wunschkind. Nach seiner Geburt ging nicht meine Frau in Elternzeit, sondern ich. Ihr war es wichtiger, ihre Karriere als Marketingleiterin weiterzuverfolgen. Sie war damals schon kalt wie ein Fisch, zu mir und zu Noel. Ich war es, der ihm die Windeln gewechselt hat und der nachts aufstand, wenn er schrie, und ihn mit der abgepumpten Muttermilch von Verena fütterte. Sie wollte nicht gestört werden, denn sie brauchte ihren Schlaf, um im Job die volle Leistung abrufen zu können. Dieselben Ambitionen hatte sie als Mutter nicht. Also war ich für Noel beides: Mama und Papa.“ Dicke Tränen liefen seine Wangen hinab. „Ich liebe ihn! Ich liebe ihn mehr als mein eigenes Leben.“
Daniel wurde hellhörig. „Sie sprechen in der Gegenwartsform von einem Verstorbenen?“
„Das war nicht so … Sie verdrehen mir die Worte … Wahre Liebe geht über den Tod hinaus.“
Er weiß es, dachte Daniel, weiß, dass Noel noch lebt . Warum gab er es nicht zu? Das konnte nur bedeuten, dass er seinen Aufenthaltsort kannte und dass er nach der Entlassung aus dem Krankenhaus wieder mit ihm
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