Nr. 13: Thriller (German Edition)
Handvoll schmutzigen Schnee und verrieb ihn auf seiner Jeans. Am Knie hatte er ein Loch in den Stoff geschnitten. Den Saum hatte er ganz entfernt, sodass er ausfranste. Seine Hose erweckte den Anschein, wochenlang an einem Stück getragen worden zu sein.
Benjamin hatte ein Paar alter Turnschuhe geopfert, sie mit einer Schere bearbeitet und bunte Manga- und Disney-Figuren draufgezeichnet. Die weißen Schnürsenkel hatte er durch neonfarbene ausgetauscht. Den grauen Hoodie hatte er in einem Billigladen für ein paar Euro gekauft. Obwohl das alles nur zur Tarnung gehörte, schämte er sich für den Bagger vorne drauf. Aber er wollte jünger wirken und hatte absichtlich zu dem kindlichen Motiv gegriffen.
Während er weiterschritt, deutlich langsamer als zuvor, schlug sein Herz immer heftiger.
Seine Hand glitt in seine Hosentasche und umfasste sein Zeichenbuch. Es gab ihm Mut. So what? Schwänze waren nun mal sein beliebtestes Motiv. Was wusste er, warum? Es war einfach so. Benjamin hatte aufgehört, in seinem Kopf herumzuforschen, und akzeptierte es, denn er fand ja doch keine Antwort darauf. Höchstens bekam er Kopfschmerzen vom vielen Grübeln und weil er sich Sorgen machte, nicht normal zu sein. Wenn ihn jemand danach fragte, behauptete er, es wären Raketen oder Drohnen, irgendwas Männliches. Je drakonischer es aussah, desto cooler kam es an und erweckte keine Skepsis. Er gestand sich inzwischen ein, dass er gerne Penisse zeichnete. Sie waren faszinierend. Weich, konnten aber auch hart werden. So lebendig wie kein anderes Körperteil. Jedes Glied war anders, was Länge, Durchmesser und Form anging. Jeder Schwanz stand anders ab, wenn er steif war. Eines Tages würde er seine Vorliebe für dieses Zeichenobjekt auch gegenüber anderen zugeben. Zu dieser Marotte zu stehen würde ihm leichterfallen, wenn er jetzt bewies, dass er Eier in der Hose hatte.
Endlich sah er sie. Zwei Müllcontainer, die einst geglänzt hatten, aber nun stumpf waren. Ruß bedeckte den rechten, der Unrat darin musste gebrannt haben. Unglücklicherweise standen sie in einem Gitterverschlag. Bens Vorhaben, so zu tun, als würde er hungrig im Abfall wühlen, konnte er daher nicht durchführen. Ferner waren die Fenster im Erdgeschoss mit alten Zeitungen beklebt, sodass die Pädophilen eh nicht auf ihn aufmerksam werden konnten.
„Scheiße, verdammte!“ Als Benjamin über seinen Kopf strich, spürte er, dass er schwitzte.
Er hatte sich die blonden Haare raspelkurz geschnitten, weil ihn das jünger wirken ließ. Schon komisch, dachte er. In den letzten Jahren hatte er immer versucht, älter auszusehen. Zudem hatte er im Knast abgenommen und sich am Morgen wie ein Jugendlicher angezogen, der auf der Straße lebte und seine Klamotten aus der Kleidersammlung hatte, wo es drauf ankam, ob etwas passte, und nicht, ob es gut aussah. Als er sich nun in der Scheibe betrachtete, erkannte er sich selbst kaum wieder.
Wütend, dass alle Vorbereitungen umsonst waren, rüttelte er an dem Verschlag.
Plötzlich ging die Hintertür auf. Ein Mann erschien, blieb stehen und musterte Benjamin.
Bens Herz wummerte in seiner Brust. Sein Fluchtinstinkt setzte ein, aber seine Füße waren schwer wie Blei. Dann erinnerte er sich daran, wer er war, oder besser gesagt, wer er werden wollte: ein Kämpfer für die Gerechtigkeit. Wegzulaufen war daher keine Option. Reiß dich gefälligst zusammen!
Sauer, weil er kurz unsicher geworden war, stand er da und betrachtete seinerseits den Bewohner der Nummer 13. Der blaue Pullover des Unbekannten saß perfekt. Der Hemdkragen, der darunter herauslugte, war gestärkt, wie ihn Bens Vater im Büro trug, und strahlend weiß. Eine Lesebrille hing an einer Schnur um seinen Hals. Sein Gesicht war frisch rasiert und er hatte seine Augenbrauen gezupft, wie Benjamin es ebenfalls heimlich tat. Sein herbes Aftershave duftete so stark, dass Ben es noch zwei Schritte entfernt roch. Offenbar trug er selbst im Haus Straßenschuhe und keine Pantoffeln oder Ähnliches. Seine Fingernägel waren gepflegt. Benjamin achtete stets auf so etwas, womit seine ehemaligen Freunde ihn früher aufzogen. Der weiße, gestutzte Bart ließ den Mann weise wirken. Oder lag es an seiner gelassenen Ausstrahlung, seiner geraden Haltung oder seinem warmen und dennoch selbstsicheren Blick?
Benjamin wunderte sich. War das wirklich ein Kinderschänder? Er wusste nicht, was er erwartet hatte. Jedenfalls nicht jemanden, der so harmlos, ja, geradezu sympathisch und
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