Nr. 799 (German Edition)
bunten Buchrücken und las Autorennamen wie Dickens, Brontë, Austen, Shakespeare, Lindgren, Blyton und Ende . Da erinnerte ich mich an Fräulein Ingrid W.s Worte. Sie liebten Bücher, insbesondere Momo von einem gewissen Michael Ende. Also zog ich dieses Buch heraus und blätterte darin.
»Na, na?«, wiederholte die Leiterin. Ohne sie anzusehen, hörte ich das Lächeln in ihrer Stimme.
Mit einem seltsam warmen Gefühl in der Brust drehte ich mich zu ihr um und nickte. »Es gefällt mir ausgesprochen gut hier«, flüsterte ich.
»Schön, das freut mich«, rief sie heiter. »Später wirst du ein Läuten hören, wundere dich nicht. Es ruft euch alle zum Essen. Mit deinen Mitschülern wirst du den Weg zur Kantine schon finden. Nun wünsche ich dir einen schönen Aufenthalt hier.« Sie winkte mir zum Abschied zu und humpelte mit ihrem Krückstock davon. Die Tür fiel scheppernd hinter ihr zu. Endlich war ich alleine mit den wundervollen Büchern.
KAPITEL 4
Die Seiten fühlten sich richtig an unter meiner Haut. Mit meinen Fingerkuppen tastete ich die Buchstaben entlang, sog jedes einzelne Wort auf und überlegte, ob ich es tatsächlich schon einmal gelesen hatte. Dieses oder jenes Buch. Ich entdeckte ein Buch mit Zitaten und Gedichten, blätterte es durch, fragte mich, ob ich wohl einen Lieblingsspruch, ein Lebensmotto hatte und was ich von Poesie hielt. Vielleicht hatte ich ja sogar selbst schon mal Gedichte geschrieben? Ich fand einen Kugelschreiber, der in einem rosafarbenen Plastikbecher lag. Was war wohl meine Lieblingsfarbe? Auf dem Schreibtisch neben meinem Gitterbett fand ich einen Papierstapel, leer und unbeschrieben.
Ich setzte mich hin und versuchte ein eigenes Gedicht zu schreiben. Und scheiterte dabei kläglich. Heraus kamen nur drei Wörter, die sich noch nicht einmal reimten: Abend. Röte. Liebe.
Ich zerknüllte das Blatt und öffnete die Kommode, die dem Schreibtisch gegenüberstand. Ich brauchte gar nicht weit zu laufen, alles befand sich höchstens eine Armlänge entfernt von mir. In der Kommode hingen mehrere Overalls, dunkelblau, wie Arbeiteruniformen. Und ganz unten, in einer Plastikbox, befand sich weiße Unterwäsche. Das war’s. Meine zukünftige Kleidung.
Modisch der letzte Schrei , dachte ich amüsiert und strich mit meinen Händen über den Stoff. Er fühlte sich genauso kratzig an wie der Kittel, den ich noch immer trug. Einen flüchtigen Moment später wunderte ich mich darüber, dass ich überhaupt wusste, was Mode war. Seltsam.
Nachdem ich mich umgezogen hatte, widmete ich mich wieder meinen Büchern.
Als später das von Eleonore S. angekündigte Läuten einsetzte, war ich so von meiner Lektüre gefesselt, dass ich erschrak. Ich brauchte einige Momente, bis ich mich vom viktorianischen London loslösen konnte und begriff, wo ich war. Nämlich in dieser bescheuerten Anstalt. Nun blinzelte ich mehrmals, versuchte mich wieder zurechtzufinden, aufzustehen, das Buch wegzulegen.
Dabei fiel mir eine der Broschüren auf, die mir Kimberly, die Sekretärin, mitgegeben hatte. Die Regeln der Anstalt . Ehe ich mein Zimmer verließ, warf ich einen Blick hinein, um informiert zu sein. Auch wenn ich nicht das Verlangen hatte, Musterschülerüberführerin oder so zu werden, so interessierte es mich doch, worauf ich mich hier einstellen musste. Also las ich:
Das Handlettre der Regeln für Überführer!
Die zehn Do’s und Don’ts!
Do’s
#1 Jeden Morgen um vier Uhr vierundvierzig läutet die Überführerglocke! Aufstehen, sofort!
#2 Kantinenessen bis fünf Uhr fünfundfünfzig, zugänglich für alle Schüler und Auszubildenden! Sonst geschlossen!
#3 Studienbibliothek durchgängig offen! Punkte sammeln ist bei Besuch möglich!
#4 Komplett-Innen-und-Außen-Überprüfungen alle sechsundsechzig Tage! Dazu Kittel anziehen!
#5 Besuch beim Anüberführer Schrägstrich Boss erst möglich nach siebenhundertsiebenundsiebzig Stunden Anmeldefrist!
#6 Bei Problemen dringend melden bei: Leiter Ihrer eigenen Abteilung ODER Nummer Zweihundertzweiundzwanzig, Doktor – kurz – Aurelian P. ODER in letzter Instanz bei Nummer Dreihundertvierundfünfzig – kurz – Fräulein Ingrid W.!
#7 In der Ausbildungsphase 1a von zehn Wochen MÜSSEN mindestens sieben Seelen überführt worden sein! Wenn dies nicht gelingt, so wird 1a verlängert werden müssen!
#8 Fleiß wird belohnt! Durchgängige Arbeit auch!
#9 Bestbenotete Schüler erhalten DAS Zertifikat der Überführer, womit sie den Zugang zu den
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