Nr. 799 (German Edition)
Toten.
Ein Krachen ertönte, als hätte jemand eine Flasche umgeworfen.
»Verflixt, Sie haben mich erschreckt!«, nahm ich eine rasselnde Stimme wahr.
Ich versuchte das Bild dieses unbekannten Mädchens zu vertreiben, meinen Blick zu schärfen. Trotzdem waberten Nebelschwaden durch meinen Kopf, die sich nur allmählich verzogen.
Mein Magen verkrampfte sich, als mich der nächste Gedanke erreichte: Wo war ich gelandet? Mit bangem Herzen machte ich mich auf weitere Überraschungen – und Märchenfiguren – gefasst.
Doch zu meiner Erleichterung stellte ich fest, dass ich vor einer einfachen Rezeption stand. Einer scheinbar ganz normalen Rezeption. Mit einer Sekretärin, die hinterm Schreibtisch hockte. Auf ihrer pastellgrünen Bluse haftete ein Namensschild. »Kimberly«, las ich leise. Keine Nummer Dreihundertweißichwas. Nur ein Vorname. Ebenfalls völlig normal.
»Ja, willkommen«, nickte die Sekretärin und strich sich die kupferfarbenen Locken aus dem Gesicht. Sobald sie lächelte, entdeckte ich Lippenstiftreste auf ihren Zähnen. »Du bist –«, sie wühlte sich durch einen Stapel maschinell beschrifteter Ordner, »Nummer – gleich hab ich’s, gleich hab ich’s – Siebenhundertneunundneunzig?«
»Offenbar bin ich das«, murmelte ich.
Mit einer fließenden Handbewegung fegte sie mehrere Mappen vom Tisch, um mehr Platz zu gewinnen. Dann kramte sie aus ihrem Etui einen silbernen Füller heraus, um in meiner Akte – wahrscheinlich – meine Ankunft zu vermerken.
»Geschafft«, stöhnte sie anschließend und ignorierte das schrille Klingeln des Telefons. Dann warf sie mir einen wesentlich entspannteren Blick aus ihren grünen Katzenaugen zu. »Na, anstrengenden Tag gehabt?«, rief sie mitfühlend, als wüsste sie genau, was ich durchgemacht hatte.
Ich lächelte schwach. »Nicht der Rede wert.«
»Mach dir keine Sorgen –«, erneut überflog sie meine Akte, »Hanna. Unsere Leiterin ist geradezu eine Heilige. Sie wird dich gut aufklären.« Plötzlich räusperte sie sich und senkte die Stimme. »Und sei froh, dass du in unserer Abteilung gelandet bist. Es hätte – ehrlich gesagt – viel schlimmer kommen können.« Ihre letzten Worte flüsterte sie, als würde sie sich vor unsichtbaren Ohren fürchten, die ihr im Zimmer auflauerten.
»Wie beruhigend«, log ich.
Als das Klingeln des Telefons immer lauter zu werden schien – ich hätte schwören können, dass der Hörer ungeduldig zappelte –, seufzte die Sekretärin. »Warte bitte. Gleich kommt unsere Leiterin bestimmt.« Sie riss den Hörer an sich und blaffte: »Was ist jetzt schon wieder?!«
Hinter ihrem Rücken entdeckte ich einen Terminplan, der sich über die gesamte Wand erstreckte. Er quoll fast über. Unter sämtlichen Tagen flatterten bunte Notizzettel, auf denen wiederum Worte rot eingekreist oder durchgekreuzt worden waren. Aus der Entfernung konnte ich nur erkennen, dass auch dort die Nummern der jeweiligen Personen eine wichtige Rolle spielten.
In einer Ecke des Zimmers stand eine Glasvitrine, die mit Broschüren ausgestattet war. Ich schaute sie neugierig an und las Sätze wie »Wenn die Seelen sich weigern, was muss ein Überführer tun? Kennen Sie das Problem?« oder »Das Handlettre der Regeln für Überführer! Die zehn Do’s und Don’ts!«
Plötzlich hörte ich Kimberlys aufgeregte Stimme wieder. »Ah, und da ist Elli auch schon! Na, Chefin?« Der Blick der Sekretärin hüpfte über meine Schulter. »Ich habe hier deine neueste Schülerin. Und, was hältst du von ihr?«
Mit angehaltenem Atem drehte ich mich um. Nicht noch eine Spinnerin. Bitte, nicht noch eine Spinnerin.
Die Leiterin der Abteilung stützte sich auf einem Krückstock ab. Ihre silbernen Pupillen waren auf den Boden gerichtet. Und ihre krausen Haare sahen nach einer misslungenen Dauerwelle aus. »Dürres Ding«, krächzte Eleonore S., die zuständige Leiterin meiner Abteilung oder wie Fräulein Ingrid W. sie beschrieb: eine überaus mitfühlende Überführerin.
»Hach, Elli, jetzt ärger das Mädchen doch nicht. Wahrscheinlich war sie vor ihrem Tod schwerkrank, nicht wahr, Schätzchen? Oder warum bist du so dünn?« Kimberly sah mich bedauernd an und runzelte die Stirn.
Ich zuckte mit den Schultern und spürte, wie ich rot anlief. »Wenn ich mich nur erinnern könnte«, erwiderte ich. »Offenbar bin ich bei einem Autounfall gestorben.«
Die Sekretärin seufzte und nickte. »Ja, so ist das. Die Vergangenheit schwindet, nur der Körper bleibt.« Dann
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