Nr. 799 (German Edition)
verlorene Wut.
Wir schwiegen und blieben auf dem Flur stehen, obwohl das Läuten längst aufgehört hatte und wir schon lange in der Kantine hätten sein müssen.
Irgendwann hob der Junge wieder den Blick und verzog seine Lippen zu einem schiefen, fragenden Lächeln: »Und du bist?«
»Nummer Siebenhundertneunundneunzig«, stellte ich mich feierlich vor und knickste vor ihm, als wäre ich eine Lady.
»Tja, du hast 'ne coolere Nummer als ich. Ich bin nur Achthundert«, lachte er.
»Ach, der Achthundert? Über den es so viele Sagen und Legenden gibt?«
»Ja, genau der.« Er nickte und grinste leicht.
In diesem Moment hörten wir ein Hecheln hinter uns. »Wo bleibt ihr denn? Ihr wollt doch nicht am ersten Tag ... Chrrr ...« Kimberly kam auf uns zugerannt und packte unsere Handgelenke. So eine Kraft hätte ich ihr gar nicht zugetraut. Mit ihrem Pfefferminzwind zog sie uns mit und sagte andauernd: »Immer die Nachzügler, die gibt’s immer. Immer die Nachzügler ...«
Ich lächelte Nummer Achthundert zu, der die Augen verdrehte und Kimberly von der Seite aus den Vogel zeigte. Als die Sekretärin zu ihm herumfuhr, senkte er schnell die Hand und sah sie unschuldig an.
»Ihr wisst, dass ihr längst in der Kantine sein müsstet! Ihr wisst, dass ihr Ärger bekommen könnt, wenn ihr zu lange irgendwie irgendwo weg seid?!«
»Klar«, antwortete Nummer Achthundert. »Das weiß ich ganz besonders.«
»Ja, du, du, DU«, zischte sie und drehte sich wieder zu mir um. Ihr Blick veränderte sich wieder und sie sah mich liebevoll an. »Hach, du liebe Hanna, du weißt ja gar nicht, was, was ER«, sie zeigte mit dem Kinn auf ihn, »vorhin getan hat. Die Fräulein Ingrid ist völlig verstört. Sie befindet sich zurzeit beim Psychologen.«
»Ehrlich?« Beeindruckt sah ich zu Nummer Achthundert, der nun mit konzentriertem Gesicht nach vorne schaute. Er wirkte überhaupt nicht, als würde er irgendetwas bereuen.
»Du solltest dich von ihm fernhalten«, flüsterte mir Kimberly mit hochgezogenen Augenbrauen zu. »Er sieht aus wie ein Regelbrecher.«
Ein Regelbrecher? Umso besser. Ich begann dem Jungen Respekt zu zollen.
Wir liefen durch den nächsten Gang und folgten dem violetten Wasser in eine riesige Halle, deren Dach ebenfalls aus Glas bestand. Dort tümmelten sich etliche Überführer . Sie saßen an den langen Tischen und nahmen schweigend ihre Mahlzeit ein. Keiner von ihnen schaute hoch, als wir vorbeiliefen. Nur einige musterten uns aus den Augenwinkeln, doch widmeten sich schnell wieder ihrem Essen. Die Stille war furchterregend. Einzig das Klappern des Geschirrs war zu hören. Eine Schar von dunkelblauen Overallträgern, die zusammengepfercht in dieser Halle saß und ihre Nahrung einnahm. Wobei, ich fragte mich plötzlich, wieso mussten sie überhaupt essen? Wieso mussten wir essen? Wir waren doch längst –
Kimberly schien meinen Blick richtig zu deuten. Sie beugte sich zu mir herunter und erklärte leise und schnell: »Essen ist für unser Seelenheil unerlässlich. Es ist wie Meditation. Auch wenn unsere Geschmacksknospen nun anders funktionieren.«
»Ach, tun sie das?«, fragte ich leise zurück und sah Nummer Achthundert hinterher, der sich mit einem Plastiktablett an einem Buffet angestellt hatte. Von Weitem sah das Essen wie normales Kantinenessen aus: Nudeln, Reis, Fisch und so weiter.
»Ja, wir ernähren uns von –«, begann Kimberly und zögerte dann. »Eure Ausbilder werden euch darüber unterrichten. Es ist nicht meine Aufgabe, das zu tun. Nein, das sollte ich besser nicht.« Sie ließ meine Hand los und lief rot an. »Also, also, guten Appetit«, rief sie mir zu und hastete davon, als würde sie vor mir flüchten.
Ich lief über den Fliesenboden zum Buffet und stellte mich hinter Nummer Achthundert. »Was hast du denn der armen – kurz – Fräulein Ingrid W. angetan?«, fragte ich ihn so leise, dass niemand es mitbekam.
Er lehnte sich in meine Richtung und lächelte mich lässig an. »Ich habe sie im Untersuchungszimmer eingesperrt und bin abgehauen. Na ja, bis sie ihre Kollegen alarmiert hat und die mich eingeholt haben. Dann durfte ich noch einige weitere Untersuchungen über mich ergehen lassen, weil ich angeblich ungewöhnlich reagiert habe.« Er ballte seine Hand zur Faust und kniff wütend die Augen zusammen. »Das ist doch gelogen. Wer würde bitte nicht so reagieren?«
»Ich hätte ihr gerne eine reingehauen«, gab ich zu. »Also der kurzen Ingrid.« Auch wenn ich es nicht getan hatte, so
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