Nr. 799 (German Edition)
Eigentlich hatte ich gerade das Gefühl, dass er doch nicht so gefährlich und unverschämt war, wie alle vermuteten. Und dass ich ihn mit meinem Misstrauen ausgesprochen verletzt hatte. Ich hoffte, dass ich das wiedergutmachen konnte.
KAPITEL 11
In den nächsten Wochen ging mir David aus dem Weg. Jedes Mal, wenn er an mir vorbeilief, wollte ich ihn ansprechen. Aber irgendwie traute ich mich nicht, weil er mich nie auch nur eines Blickes würdigte.
Irgendwie vermisste ich ihn. Er war immer da gewesen, wenn ich mit jemandem reden wollte. Nun saß ich in der Kantine meistens zwischen Destiny und Mia, die mich auch nicht auf ihn ansprachen, weil sie offenbar gemerkt hatten, dass wir uns gestritten hatten. Sie waren zu den einzigen Freundinnen geworden, die ich an diesem Ort hatte. Ich war ihnen dankbar.
Unsere gemeinsamen Unterrichtsstunden waren relativ eintönig. Noch durften wir keine weiteren Überführungen erleben. Was mir persönlich auch ganz recht war. Stattdessen mussten wir mehrere Testdurchgänge absolvieren, in denen uns inhaltliche Fragen mit Antworten zum Ankreuzen gestellt wurden – so etwas wie:
Welche zwei Fehler können einem Überführer bei der Abholung einer Seele unterlaufen?
A: Seele kurz nach dem Verlassen des Körpers auffangen
B: Seele zurück in den Körper schlüpfen lassen
C: Seele zu lange zurückschauen lassen
D: Seele aus Versehen aufessen
In diesem Fall waren natürlich B und C die richtigen Antworten, doch ich war neugierig, wie sie auf Fehler reagieren würden, und kreuzte einfach die beiden anderen Kästchen an. Und siehe da: sie boten mir schon bald Nachhilfestunden an. Die ich nicht ausfallen lassen konnte, weil sie eine Glocke in meinem Zimmer aufhängten, die solange schellte, bis ich in der Bibliothek zu meinem Einzelunterricht bei Ben erschien. Da hatte ich mir echt etwas Blödes eingebrockt. Ich war froh, wenn ich mal nicht lernen musste.
Wie zum Beispiel während der Mahlzeiten in der Kantine. Da durfte ich mich endlich entspannen. So wie jetzt. Gerade erzählte Destiny mir von den anstehenden Komplett-Innen-und-Außen-Untersuchungen bei Doktor Aurelian P., die an diesem Nachmittag stattfinden würden. »Also, irgendwie finde ich den Arzt ja schon ein wenig scharf? Was meinst du, Hanna?«
»Der ist doch uralt«, erwiderte ich mit Blick auf David, der nur einige Sitze weiter stumm seine Mahlzeit verspeiste. Reis mit Joghurt. Als er – so glaubte ich – bemerkte, dass ich ihn beobachtete, verkrampften sich seine Hände und er stocherte noch etwas brutaler in seinem Teller herum. Hm, stellte er sich gerade vor, dass das Essen mein Gesicht war? Ich konnte es ihm nicht verübeln.
Von Weitem sah er geradezu engelsgleich aus, mit seinen dunkelblonden Haaren, die im sterilen Kantinenlicht noch verwuschelter aussahen als sonst, und mit seinem konzentrierten Blick, der seinem Teller gewidmet war.
Wie hatte ich so gemein sein können? Während er mich mit seinen traurigen Augen gemustert hatte? Ach, ich stand mir offenbar gerne selbst im Weg.
»Hanna? Ich rede mit dir!«, murmelte Destiny und zupfte an meinem Ärmel.
»Ja, ich höre dich ja«, log ich. »Der uralte Arzt ist scharf. Klar. Was noch.«
Sie schnaubte und entgegnete: »Seit er dir nicht mehr wie ein Schoßhündchen nachläuft, scheinst du ihn wirklich zu vermissen. Warum sprichst du nicht einfach mit ihm?«
Ich sah sie überrascht an. So direkt hatte sie mich noch nie darauf angesprochen.
»Was guckst du denn so? Selbst Aegidius – ich meine natürlich Nummer Siebenhundertsechsundneunzig – hat mich letztens gefragt, was zwischen euch vorgefallen ist. Wenn der das schon merkt. Ich bin schließlich nicht blind.«
Mia, die gerade ihren Mund mit einem Taschentuch abtupfte und den letzten Teil der Rede gehört hatte, sagte: »Aber Elli, die Leiterin, die kann sehen, obwohl sie blind ist. Wie macht die das?«
Ich zuckte mit den Achseln und legte meine Gabel ab. In meinem Bauch rumorte es, jedoch nicht, weil ich Hunger hatte. Verdammt, ich traute mich nicht, David anzusprechen.
»Nun mach schon«, befahl Destiny, als wäre ich die Praktikantin in ihrer Fernsehsendung, die den verschütteten Kaffee wieder aufwischen sollte. »Bring das wieder in Ordnung.«
»Muss das sein?«, fragte ich gequält. »Jetzt? Ausgerechnet jetzt?«
Sie nickte. »Sonst machst du Mia und mich auch noch wahnsinnig. Ich weiß, dass ich am Anfang gedacht habe ... Aber vergiss das jetzt einfach. Anscheinend brauchst du ein wenig
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