Nr. 799 (German Edition)
war abgeschlossen. Ich war gefangen.
Ich spürte, wie sich seine Hand auf meine Schulter legte. Er drehte mich um, sanft. Doktor Aurelian P. beugte sich zu mir, bis er mit seiner Hakennase fast gegen meine Stirn stieß. » Hanna «, sagte er, »es ist alles in Ordnung. Sie dürfen Fragen stellen. Wir werden alle fünf Maxizeiger Pause machen. Dann können Sie alles auf sich wirken lassen. Es ist nicht schlimm. Mit der Zeit wird der Film Ihnen sogar gefallen. Und dann ... können Sie endlich loslassen. Den anderen Fällen hat dieser Teil der Behandlung stets geholfen. Glauben Sie mir. Vertrauen Sie mir. Bitte?«
Hinter seinem Rücken entdeckte ich den Psychologen, der wieder an seinem Flachmann nuckelte. Er war auf den Boden gerutscht und streckte die Beine aus. Er war wirklich ein Walross.
»Wie heißen sie?«
»Hm?« Doktor Aurelian P. zog die Augenbrauen hoch und sah mich fragend an.
»Die ...« Meine Eltern? »Die Leute dort?«
»Ah.« Er nickte, als würde er mich nun besser verstehen. Ich sah, wie sein Blick zurück zu seinen Unterlagen huschte. Offenbar wartete er nur darauf, seine neu erworbenen Ergebnisse aufzuzeichnen. »Warten Sie.« Nachdem er in seinen Akten nachgesehen hatte – und gleichzeitig mit seinem Kugelschreiber Notizen auf dem Papier hinterlassen hatte – kehrte er zu mir zurück und erzählte: »Ihre Mutter heißt Karin. Nach der Scheidung von Ihrem Vater nahm sie wieder ihren Mädchennamen an. Sie arbeitet als Krankenschwester in einem Krankenhaus. Und Ihr Vater, Joseph, war Anwalt in einer hochangesehenen Kanzlei. Aus dieser Kanzlei ist er jedoch hochkant rausgeflogen, nachdem einige seiner dubiosen Machenschaften ans Licht kamen.« Er räusperte sich und lachte leise. »Gefälschte Dokumente und so, sehr beeindruckend, wenn Sie mich fragen. Also, wenn es nach mir geht ... Ich denke ja, dass Sie eher nach ihm kommen. Also, ähm, charakterlich.«
Ich starrte ihn fassungslos an.
»Das soll natürlich ein Kompliment sein. Damit meine ich, dass Sie genauso intelligent auf mich wirken.«
Er schob mich zurück zu meinem Platz. Nur widerwillig setzte ich mich hin. Ich versuchte nicht auf die Leinwand zu sehen, doch das war unmöglich. Mehrere bekannte Stimmen verlockten mich dazu. Hohe, kichernde.
Mädchen, Grundschule. Irgendwelche Freundinnen von mir, mit denen ich mich gerade um das letzte Kuchenstück an meinem Geburtstag stritt. Meine Mutter kam dazu und teilte es, so dass wir alle einen letzten Bissen abbekamen. Ich war kleiner als die anderen, doch viel lauter und frecher. Meine Kinderstimme hörte sich in meinen Ohren an wie die einer Cartoonfigur.
Ich trug ein blaues Blümchenkleid, das total verdreckt war. Matschspritzer bedeckten es, als hätte ich draußen im Regen gespielt. Selbst auf meiner Nasenspitze klebte Erde.
Ich wollte mich auf meinem Stuhl zurücklehnen, doch ich schaffte es nicht. Verkrampft blieb ich sitzen, bewegte mich nicht mehr, wagte nicht einmal mehr zu atmen.
Bilder aus einer Vergangenheit, die irgendwie zu mir gehörte und doch nicht. Ich verstand sie nicht. Manchmal wunderte ich mich, dass ich damals so launisch reagierte. Gelegentlich lachte ich über meine eigenen dummen Witze. Und dann wieder wollte ich weinen, kniff aber die Augen zusammen, weil ich mich vor den Bildern fürchtete, die Doktor Alfred B. von mir schießen würde, wenn ich zu viele Emotionen zeigte.
Ich fühle nichts , redete ich mir ein. Das Mädchen da, das bin nicht ich . Das konnte alles einfach unmöglich wirklich so gewesen sein. Und doch – es war die Wahrheit, es war eine Welt, die ich so nicht mehr kannte. Und deren Anblick mir Schmerzen bereitete.
Wieso konnte ich nicht zurück? Alles noch mal anders machen? Wo war ich hier gelandet? Was wenn – oh, nein. Ich erstarrte, spürte eine grausame Kälte in mir. Was, wenn ich irgendwann meine eigene Familie überführen musste? Nun kannte ich ihre Gesichter. Ich würde sie nie wieder vergessen, ganz sicher nicht.
Was wenn?
Ein Blitz, ein Foto, noch ein Foto, das getrocknet werden musste. Doktor Alfred B. pustete. Aus seiner Kehle drang ein Husten. Er stolperte in meine Richtung. Schoss noch ein Foto.
Ich biss die Zähne aufeinander, blinzelte die Tränen weg.
Starrte weiter auf die Leinwand, wo mich eine Welt aus leuchtenden Farben anlachte. Frühling. Blühende Magnolien. Ein Schulhof. Bastian, der von seinem Fahrrad stieg. Und der mir immer wieder Blicke zuwarf. Von Weitem. Ohne, dass ich ihn bemerkte. Denn ich war voll
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