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Nr. 799 (German Edition)

Nr. 799 (German Edition)

Titel: Nr. 799 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yuna Stern
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Nummer Siebenhundertneunundneunzig. Gelegentlich verhalte ich mich wirklich wie ein Schwachkopf. Ich merke es leider nur nie schnell genug.« Er hatte begonnen zu schluchzen.
    Verdattert blickte ich zu Doktor Aurelian P., der mit den Schultern zuckte und grinste. »Ist schon gut, mein Freund. Jetzt fang doch bitte mit ihrer Behandlung an. Endlich.«
    »Jajaja. Es tut mir leid. So leid.« Nachdem er sich wieder geschnäuzt hatte, drückte Doktor Alfred B. auf einen türkisblauen Knopf, der neben der Tür angebracht war. Daraufhin verdunkelte sich der Raum, ich konnte nur noch ihre hellen Kittel erkennen, nicht mehr ihre Gesichter.
    Ein Rauschen erklang.
    Und es wurde so laut, dass ich mir die Ohren zuhalten wollte. Doch ehe ich das tun konnte, hörte ich entsetzliche Schreie. Woher kamen sie? Ich zuckte zusammen, sah mich im Raum um, doch außer den beiden Ärzten war niemand hier.
    Auf der gegenüberliegenden Wand entstand ein Bild. Wieder schaute ich mich um, über meinem Kopf entdeckte ich einen Beamer. Er warf das Licht auf die Leinwand.
    Und zeigte den Film.
    Eine Frau erschien vor meinen Augen, deren Haare ein goldener Fächer auf einem Kissen waren. Sie schwitzte, riss den Mund auf, bis die Kamera bis zu ihrem Gaumen vorfuhr. Bis hinein in ihren Rachen.
    Ich schauderte.
    Ich kannte diese Stimme. Irgendwo in mir drin regte sich eine Ahnung. Doch ich konnte es mir nicht eingestehen, das war unmöglich. Ich wollte es nicht. Woher? Woher diese Aufnahmen?
    Es war mein Film .
    Die Stimme meiner Mutter, ihre Schreie. Dann das Weinen eines Babys. Die Kamera schwenkte um, zeigte ein blutiges Gesicht. Mein zerknautschtes, verheultes Gesicht. Als Neugeborene.
    »Was soll das?«, flüsterte ich. »Machen Sie das weg.« Was wollten sie damit bezwecken? Mich einfach nur quälen? Meine Reaktionen testen?
    Ja .
    Doktor Aurelian P. begann in rapider Geschwindigkeit seine Formulare auszufüllen, während der Psychologe eine Polaroidkamera hervorholte und ein Bild von meinem Gesicht schoss. Wie ich wohl aussah? Jetzt gerade? Schockiert? Entsetzt?
    Wütend!
    Ein Schnitt, ein neuer Ort. Erste Schritte auf einem blitzblank geputzten Nussbaumparkettboden. Winzige Füße, die Tintenflecke auf einem DIN-A3-Blatt hinterließen, das von lachenden Eltern hochgehalten wurde. In die Kamera.
    Mein Vater. Ein bärtiger Mann mit Riesenohren. Und einem breiten Grinsen, das auf seinen Lippen klebte und nicht wegzuwischen war. Wie hieß er noch mal? Ich hatte seinen Namen vergessen. Ich schüttelte mich, versuchte mich zu erinnern. Wie konnte ich die Namen meiner eigenen Eltern nicht mehr kennen? Das war doch krank!
    »Was sind Ihre Probleme?« Der Psychologe schoss ein weiteres Bild und wedelte mit dem anderen Foto in der Luft, um es zu trocknen.
    Ohne wirklich zu verstehen, was ich tat, sprang ich auf und nahm es ihm aus der Hand. Ich zerriss das Bild in zwei Hälften, schmiss die Papierschnipsel auf den Boden.
    »Machen Sie das aus!«, fuhr ich den perplexen Mann an. »SOFORT!«
    Er trat drei Schritte zurück, schoss weitere Fotos. Mit dem Blitz blendete er mich. Ich war kurz davor, ihm die Polaroidkamera wegzunehmen. Sie kaputt zu schlagen.
    »Schalten Sie das aus!«
    Wieder erreichte mich ihre Stimme. Meine Mutter las mir ein Märchen vor. Irgendetwas über sieben Zwerge. Ich konnte das Märchen nicht einordnen, nicht mehr, ich war so verwirrt, dass ich schreien wollte.
    Wie hießen sie? Meine Eltern?
    Fräulein Ingrid W. hatte sie mir verraten, ihre Namen. Und doch waren sie fort, wie Hülsen vom Wind davongefegt.
    Stattdessen kannte ich jede beschissene Nummer, die mir in dieser Anstalt eingetrichtert worden war.
    Nummer Siebenhundertneunundneunzig.
    Nummer Achthundert.
    Nummer Dreihundertvierundfünfzig.
    Nummer Sechshundertzweiundzwanzig.
    Und so weiter und so fort. Wie konnte das sein?!
    »Hanna, beruhigen Sie sich!«, rief Doktor Aurelian P. Er kam auf mich zu, doch ich wich zurück.
    » Hanna ? Meinen Sie nicht Nummer Siebenhundertneunundneunzig?«, fauchte ich.
    Er räusperte sich und legte seine Unterlagen auf den Boden. Mit hocherhobenen Händen näherte er sich mir. Die Farben des Films wurden von seinem Kittel reflektiert. Und von seinen Händen.
    Es war so hell hier. Ich wollte raus.
    Die Farben waren zu grell. Viel zu grell.
    »Jetzt stellen Sie sich nicht so an, Hanna. Es ist ja nicht so, dass Sie gar keine Ahnung mehr hätten. Warum lassen Sie sich nicht darauf ein?«
    Ich rannte zur Tür und versuchte sie aufzureißen. Sie

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