Nuhr, Dieter
hat.
Erhabenheit 28. Juni 2006
Manchmal steht man morgens auf, schaut in den Spiegel und
denkt: »Meine Fresse! Dass das Leben aber auch so gar nichts Erhabenes hat!«
Früher haben die Menschen geglaubt, der Mensch sei das Ebenbild Gottes. Da
hatten die Menschen in ihren Bauernkaten und Mönchszellen noch keine funktionierenden
Spiegel.
Wenn man in so einen Spiegel schaut, guckt man ja lauter
sterbenden Zellen beim Regenerieren zu. Aber wir möchten eben, dass das Leben
etwas ganz Großes ist, obwohl wir doch jeden Tag das Gegenteil erleben. Allein
der Verdauungsprozess.
Wer wäre noch nicht in ein Klo reingestürmt, wo schon jemand
saß? Man ist peinlich berührt, und der Typ guckt einen an, als wäre ihm gerade
der Blitz in die Schüssel gefahren. Wenn Sie den da sitzen sehen, glaube ich
nicht, dass Sie in einer solchen Situation schon mal gedacht haben: »Oh, wie
schön! Ein Ebenbild Gottes!«
Verdauung bringt man mit Erhabenheit nicht in Verbindung.
Deshalb ist Verdauung bei uns auch kein großes Thema. Man spricht nicht gerne
darüber, von den Älteren vielleicht abgesehen. Ab einem Alter von 85 Jahren ist
der Mensch in der Lage, eine Fahrt von München nach Berlin in der Deutschen
Bahn komplett mit einer Unterhaltung über Darmtätigkeit zu füllen, mit kurzen
Schlenkern zum Thema Prostata und Nachts-raus-Müssen. Wahrscheinlich braucht
der Mensch einfach 85 Jahre, um zu begreifen: Das Leben ist im Grunde ein
Verdauungsprozess.
Darum hat der Grieche ja die klassische Skulptur erfunden
- um sich über die schlichte Realität des Stoffwechsels hinwegzutäuschen. Eine
griechische Statue, voll stiller Anmut, edler Größe, steht elegant und vornehm,
Standbein, Spielbein. Die sitzt niemals auf dem Klo, weil man ja das Edle im
Menschen zeigen wollte, also das Höhere, und nicht irgendeinen Bauern auf dem
Donnerbalken. Auf dem Klo sehen schließlich alle Menschen gleich doof aus.
Insofern ist das Klo ein Ort der Demokratie. Ungerechtigkeit, Ausbeutung,
Unterdrückung - im Klo gibt es das alles nicht.
Nur draußen gibt es Bessere und Schlechtere. Am besten
wäre es aus meiner Sicht, wenn wir unser ganzes Leben nur auf dem Klo
verbringen würden.
Selbst wirklich große Menschen schrumpfen oft, wenn man
ihnen im profanen Alltag begegnet. Der große Wissenschaftler kommt von der
Nobelpreisverleihung ins Hotel, er zieht die Schuhe aus und sofort begreift
man: Es gibt Probleme, zu deren Lösung auch große Wissenschaftler nicht in der
Lage sind. Selbst Nobelpreisträger können es nicht ändern: Die Welt ist in
ihren Eingeweiden ein bestialischer Pfuhl höllischer Dämpfe, vor allem in
Stoffturnschuhen. Kennen Sie das? Wenn Stoffturnschuhe so einen Punkt
überschreiten, an dem nichts mehr zu machen ist?
Wenn Sie Friedrich Nietzsche lesen, von Genius und dem
Übermenschen, dann hilft es zuweilen, sich diesen Übermenschen mehrere Stunden
in dicken Sneakers, Boots oder Stiefeln vorzustellen, in einem Raum mit
Fußbodenheizung.
Erhabenes ist von der Natur nicht vorgesehen. Das sollten
auch Philosophen endlich mal begreifen.
Aktives Totsein 5. Juli 2000
Unser größtes Problem überhaupt besteht in der
Überalterung unserer Bevölkerung. Die Menschen heute halten sich fit und
springen noch mit dem Gleitschirm in die Kiste. Beim Nordic Walking kommen sie
einem mit einer Ausstrahlung unerschütterlicher Lebensfreude entgegen, die
eine ganze Erbengeneration mit großer Sorge erfüllt. Nordic Walking ist
vielleicht überhaupt die treffendste Metapher für unsere Vergreisung und
beschreibt die Grundhaltung der Generation Methusalem: »Ich geh am Stock und
fühl mich wohl dabei.«
Heute will man keinen Lebensabschnitt mehr einfach verstreichen
lassen. Ich bin kein Trendforscher, aber ich glaube, der nächste Trend wird
»aktives Sterben« sein. Nachvollziehen kann ich das schon: Man will heute nicht
mehr einfach passiv ableben und den Geist einfach so aufgeben. Als Verbraucher
will ich das aktiv mitgestalten.
Ich will keine Eichenkiste, ich will einen atmungsaktiven
Adidas-Aktiv-Sarg aus Neopren mit Reißverschluss. Man liegt da immerhin ein
paar tausend Jahre drin, ohne Klimaanlage, ohne Dusche. In solch einem Sarg
herrschen mikroklimatische Verhältnisse, die heute einfach nicht mehr unserem
ästhetischen Standard entsprechen. Da müsste es doch eine Lösung geben,
vielleicht irgendwas mit Düften, so Richtung Ayurveda?
Auch wenn man tot ist, könnten doch wenigstens die Einzelteile
noch aktiv verwertet
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