Nuhr, Dieter
ich ihnen: »Ich persönlich glaube, dass der
menschliche Leib für die Ekstase gemacht ist.« Dann drehen sich bei denen immer
die Augen, es klingelt im Schädel und auf der Stirn erscheint in leuchtenden
Buchstaben: Schwerer Ausnahmefehler! So ist der Herbst, herrlich!
Der Herbst hat so etwas wunderbar Melancholisches. Wenn
man beispielsweise nach der Sommerpause zum ersten Mal wieder zum Sport geht -
und feststellt, dass man nach dem letzten Mal im Juni wieder nicht die
Sporttasche ausgeräumt hat. Und wenn man dann den Reißverschluss öffnet und die
hartgewordenen Socken und Handtücher herauskratzt, da weiß man, was
Vergänglichkeit bedeutet.
Spätsommer und Herbst, das sind Jahreszeiten für Romantiker.
Nicht der Frühling. Im Herbst werden selbst Männer romantisch. Und haben
plötzlich auch nach dem Sex noch das Bedürfnis nach Nähe und stellen zärtliche
Fragen wie: »Wll'ste auch ne Kippe?« So romantisch können Männer sein.
Ich fahre im Spätsommer immer noch ein bisschen in die
Toskana, um dort im Rausch des Tafelweines die Bilder von Fra Filippo Lippi zu
bewundern - was sag ich: bewundern? Ich nehme in einer Art geistiger Übung nach
dem Vorbild von Ignatius von Loyola am dargestellten heiligen Ereignis offenbarungsartig
selber teil - bevor ich mir dann die Pizza in den Balg kloppe.
Damals wurde ja noch oft mit Eierfarbe auf Holz gemalt.
Das ist ja alles schön und gut, aber ich persönlich habe die Eier doch lieber
auf einer Pizza Capricciosa. Mal ganz ehrlich: Irgendwann reicht's mit den
Madonnenbildern. Im Urlaub will ich auch mal Spaß haben, nicht immer nur
ergriffen sein! Wenn ich ergriffen sein will, kann ich auch zu Hause bleiben,
dann warte ich, bis es an der Türe klingelt, und lasse sie rein, die beiden
Damen, die Zeuginnen des Jehova. »Wirklich?«, frage ich dann, »diesmal kommt er
wirklich? Der Weltuntergang? Huuuuh.« Ach, der Herbst. Schön!
Schock 22.
September 2000
Also, mich schockiert nix mehr. Was soll einen denn heute
noch richtig schockieren? Bei dem, was man heute gewöhnt ist ... Man sitzt mit
der Zeitung beim Frühstück und liest: »Kindergarten immer brutaler!
Goldhamster >Muffel< von Metzgersohn Dominik, 4 Jahre, mit
Taschenmesser geschlachtet und zu Fleischwurst verarbeitet«, und man denkt:
»Ach, Fleischwurst, gute Idee, da nehme ich noch ein Scheibchen ...«
Das liegt an der Reizüberflutung. Die ganze Welt wird uns
nach Hause gesendet; da gibt es nichts mehr, was einen überraschen könnte.
Früher war das anders - als man die Welt noch nicht so kannte, als es noch
Entdecker gab wie Kolumbus. Ich stelle mir das toll vor: Man mietet ein Schiff,
fährt los und plötzlich! Ein neuer Kontinent, weißer Sand, Palmen und ein
kleiner Hotelkomplex, den noch nie ein Mensch betreten hat. Und man geht als
Entdecker an Land und trifft auf die Ureinwohner, und sagt zu sich: »Mensch,
wie sehen die denn aus? Das sind ja richtige Wilde, die haben ja nicht mal
Tennisplätze hier oder Fitnesstrainer, die bringen wir um.« So waren die
Entdecker damals. Humorlos.
Aber schockiert uns das wirklich? Mit zeitlichem Abstand
kann man sich darüber jetzt auch nicht mehr so richtig aufregen. Es passiert
halt so viel Schlimmes. Nehmen wir mal den Regenwald: Brandrodung. Schrecklich!
Aber was mich wirklich aufregt, ist, wenn ich im Café zum Kaffee diese
Kondensmilch-Portionen bekomme: Das ist furchtbar. Und wenn dann auch noch beim
Öffnen die Lasche abreißt, da ist mir der brasilianische Dschungel so was von
egal!
Schockiert mich sowieso alles nicht mehr. Was hat man uns
nicht alles angedroht, was angeblich kommt - die Klimakatastrophe, Wüste in
der Eifel und Nordsee bis zum Sauerland, das sollte alles vor der Tür stehen!
Und was steht vor der Haustür? Die Zeugen Jehovas. Das schockiert!
Existenziell muss man zugestehen, dass Menschen falsche
Prioritäten setzen, was ihre Schockschwelle angeht. Aber jetzt fällt mir etwas
ein, was mich mal wirklich schockiert hat. Ich habe neulich eine Frau
kennengelernt, witzig, nett, intelligent - dazu noch sehr hübsch, und nach zwei
Stunden beim Italiener war ich faktisch bereit, für sie gegen ein Rudel
Krokodile zu kämpfen. Wir gehen also gemeinsam, steigen in ihr Auto, sie fragt:
»Zu mir oder zu dir?« Und während sie das fragt, legt sie ihre erklärte
Lieblingsmusik ein: Pur. »Komm mit mir ins Abenteuerland ...«
Ich habe nur noch gestammelt, was das für ein toller Abend
war, dass ich aber früh raus muss, und bin dann 7
Weitere Kostenlose Bücher