Nuhr, Dieter
Kilometer zu Fuß nach Hause
gegangen. Ich war völlig fertig. Da kann man mal sehen: Auch in dieser Zeit
gibt es noch Dinge, die uns schockieren. Man muss nur warten, bis etwas
wirklich Schlimmes passiert.
Wohltätigkeit 24.
September 2000
Ich habe jetzt im Moment keine Geldsorgen. Ist das nicht
schön? Es ist schon beruhigend, wenn man materiell abgesichert ist. Früher war
ich da anders und fand es schrecklich, wenn man überhaupt an materielle Dinge
gedacht hat. Materialisten waren für uns doch das Allerletzte.
Nehmen wir mal den Afrikaner - was waren wir enttäuscht
vom Afrikaner! Wir wollten ihm damals den Umweltschutz beibringen,
Solarenergie, Brunnenbauprojekt - und was wollte der Afrikaner? Geld für Essen.
Das war doch oberflächlich! Konnte sich der Afrikaner nicht vor dem Essen mal
mit den wirklich wichtigen Weltproblemen auseinandersetzen, zum Beispiel damit,
dass die da unten viel zu wenig Fahrradwege haben?
Wir waren besorgt. Weil wir die Welt retten mussten. Vor
dem ökologischen Untergang. Wir haben gedacht, dass wir Schuld sind, wenn alles
irgendwann mal zusammenbricht, weil wir nicht genügend Krötentunnel gebaut haben.
Dann gab es plötzlich Ortschaften, die haben für ein Wahnsinnsgeld Krötentunnel
gegraben, da gab es gar keine Kröten! Aber egal! Es könnten ja Kröten kommen.
Man weiß nie, wo die Kröte langläuft:...
Wie viele Wohnungen sind in Deutschland nicht gebaut
worden, weil irgendjemand in der Gegend einen Wachtelkönig gesichtet hat oder
einen Pirol. Denn wo ein Pirol ist, da kann man nicht bauen! Ein Pirol braucht
gemischten Obstbaumbestand! So ein Pirol ist empfindlich, der muss schon beim
Fliegen erkennen: »Mann, ist das ein schöner gemischter Obstbaumbestand
hier«, sonst kriegt der Depressionen. Da kann man nur
schwer argumentieren: »Hier, pass mal auf, du Pirol, hier wird gebaut, dafür
kannst du in Zukunft den Krötentunnel mitbenutzen.« Das macht der nicht, da ist
er pingelig.
Na ja, in Verhältnissen wie bei uns Wachtelkönig oder
Pirol lebt der Sudanese oder der russische Bergarbeiter dann doch nicht. Und
das finde ich natürlich auch schlimm. Was haben wir uns für unterprivilegierte
Menschen eingesetzt! Ich habe mir jahrelang mit Nicaraguakaffee den Magen
ruiniert. Ich bin halt ein engagierter Mensch! Bei uns hat neulich einer an der
Türe geklopft und irgendwas von seiner schlechten Kindheit und Gefängnis
erzählt. Jetzt muss ich ein Jahr lang »Freizeit Revue« lesen.
Nur, weil ich nicht »Nein« sagen kann, wenn einer mit
irgendwas Sozialem um die Ecke kommt. Ich lasse mir jeden Mist andrehen! Ich
glaube auch immer alles! Nur: In Zukunft werde ich bei Türgeschäften besser
aufpassen. Ich habe die ganze Wohnung voller Blümchenpostkarten! Und das,
obwohl ich Blümchenpostkarten hasse! Ich habe mir jetzt fest vorgenommen: Ich
kaufe so etwas nicht mehr, selbst wenn sie mit dem Mund gemalt und mit dem
Hintern trockengeföhnt sind.
Wenn ich daran denke, wie viele Schrubber, Staubtücher,
Wäscheklammern und ähnlicher Kram sich bei mir im Keller stapeln - wenn bei
uns mal einer einbricht, der glaubt, er ist in einer Behindertenwerkstatt. Wenn
ich allein die ganzen Waschlappen zusammenzähle, die ich gekauft habe, muss ich
sagen: »So viele Behinderte gibt's doch gar nicht.« Da sieht man, wo man
hinkommt, wenn man keine Geldsorgen hat.
Rettung 18.
Oktober 2000
Gestern war ich mal wieder auf einer Familienfeier, wo
alle Verwandten auftauchen, und natürlich freut man sich, dass man die alle
mal wiedersieht, aber nach zehn oder zwölf Minuten fragt man sich dann schon:
»Wie lange dauert das noch? Warum holt mich hier keiner raus?« Irgendein
Retter, ein Messias oder so etwas Ähnliches ... Viele glauben das ja: Dass
irgendwann einer kommt und uns erlöst von allem Übel, wie zum Beispiel Verwandten
- oder auch Gegenwind beim Radfahren oder Fußpilz.
Aber ein Messias - wie soll das gehen? Wenn heute einer
vom Himmel käme und sagen würde: »N'abend die Herrschaften, ich bin der
Retter, der Erlöser, der Sohn Gottes«, dann sagen doch alle: »Ey, geil, da
gibt's bald wieder mal eine Kreuzigung im Fernsehen!« Oder man würde dem
Erlöser gleich selbst eine Talkshow anbieten. An Themen würde es nicht mangeln:
»Hilfe, mein Vater ist allmächtig!« Oder: »Schrecklich, keiner glaubt an
mich!«
Neulich habe ich jemand getroffen, der behauptet hat, er
könnte die Menschheit retten - er wäre der Messias, er hätte bei Gott
persönlich eine Lehre als
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