Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
Vom Netzwerk:
Kameras filmten jedes Gleis, jeden Reisenden, jedes Schließfach, die Fahrkartenautomaten, Toiletten, Restaurants. Jeder Winkel wurde erfasst.
    Wenn er will, kann Patrick jederzeit in Erfahrung bringen, wo ich bin und was ich gerade tue. Er braucht bloß jemanden in die CCTV-Zentrale zu setzen, der die ganzen Bildschirme da im Auge behält. Oder sich die Bänder zeigen lässt, bevor sie gelöscht werden. Stell dir das mal vor, fünfzehntausend Big-Brother-Augen in der ganzen Stadt, die dir auf Schritt und Tritt folgen.
    Ella stellte es sich vor – bei jeder Kamera, die sie auf einem Mast oder an einer Fassade bemerkte, stellte sie sich vor, wie sie ihr folgten, wie sie irgendwo in einem dunklem Raum saßen und sahen, dass sie am Lancaster Gate in die U-Bahn hinuntergestiegen war und dass sie in dem überfülltem Zug keinen Sitzplatz fand und dass sie an der Bond Street umstieg in den nächsten Zug und schließlich auf rollenden Metallstufen wieder an die Oberfläche getragen wurde. Sie stellte sich vor, wie sie den einen Bildschirm verließ und auf dem nächsten erschien, aus einer anderen Perspektive, mal von hinten, dann wieder von vorn, aber immer war sie es, und immer saß Cassidy oder einer von seinen Leuten davor.
    Als sie jetzt die U-Bahn verließ, hatte es zu regnen aufgehört, und die Luft über der Themse wirkte wie aus Licht gepixelt. Die plötzliche Helligkeit blendete sie. Das Wasser war grau und grün; auf den Wellen blinkten Sonnensplitter. Dicht am Ufer ragte ein mit großen Gondeln behängtes Riesenrad auf. Ganz weit oben, über dem Dunst, war der Himmel strahlend blau. Die Straßen und Mauern rings um den Bahnhof waren mit einer grauschwarzen Patina überzogen, und unter den Brücken hing ein Gespinst aus Schmutz und dem unablässig bebenden Lärm von Zügen und Autos. Möwen durchschnitten den Himmel mit krächzenden Schreien.
    Auf der anderen Seite des breitschultrigen Flusses ballten sich die Türme und Baukräne der City wie verwegene Klippen aus Stahl, Beton und Glas zu einer atemberaubenden Skyline zusammen. Alte, kantige Zinnen und hypermoderne Glasfronten verschmolzen in überraschender Harmonie. Dazwischen ragte eine Bürowabe wie ein riesiger, schimmelgrün und golden schimmernder Spargelkopf aus den engen Straßen. Weiter rechts spannte die Tower Bridge ihre ein drucksvolle, kalkgraue Silhouette von Ufer zu Ufer. Der scharfe Wind roch nach Jod und Salz und Algen auf kalten Steinen. Das tiefe Brummen der über der Stadt kreisenden Helikopter war auch hier zu vernehmen.
    Ella wurde die Erinnerung an die Kreidezeichnung auf dem Fußweg vor der Botschaft nicht los, der liegende Mann, der aussah, als wollte er noch immer vor etwas wegrennen. Es war wie ein Ticken in ihr, das sie begleitete, kaum hörbar, und sie vorantrieb: Zeit, die ablief, die sie nicht aufhalten konnte.
    Schwarz verhüllte Frauen in flatternden Gewändern wirkten wie Gespenster, die zu früh aus den mittelalterlich wirkenden Seitengassen hervorgeirrt waren, aufgescheucht von Bauarbeitern, Baggern und Planierraupen. Dazwischen keuchten Jogger mit roten Gesichtern ihrem Traum von der ewigen Jugend hinterher. In riesigen Baugruben wuchsen die Stahlskelette neuer Hochhäuser, aber in den rußigen Unterführungen lagen Bettler in Schlafsäcken, die das Lärmen von Presslufthämmern nicht beim Schlafen störte. An den Eisengeländern der South Bank flatterten wie überall die bunten Plastikfähnchen, als schmücke sich die ganze Stadt für ein festliches Ereignis.
    Die Büros der Bailey Media Group lagen hinter der Blackfriars Bridge auf der South Bank in dem zum Wasser hin offenen Hof eines alten Fabrikgeländes. Zwei Galerien, ein Café, eine Sattlerei, ein Fischgeschäft, ein Kleinverlag und ein indisches Restaurant teilten sich die Front der ehemaligen Werkshallen. Vor dem Fischgeschäft schüttete gerade ein muskulöser Mann mit einer blauen Schürze zerstoßenes Eis aus einem Eimer über die toten Fische, die in großen Holzladen in den offenen Fenstern lagen. Mit dem Rauch aus dem zerkleinerten Eis stieg Ella der kalte Geruch der Fische entgegen, die aussahen, als wären sie noch lebendig – das frische, glitzernde Blut unter den schleimigen Kiemen, die flachen weißen Augen, die schwarzgoldenen Leiber. Rotweiße Hummer türmten sich wie abgestürzte Aliens zu Schrotthaufen, mit gebrochenen Antennen wie aus einem Science- Fiction-Film.
    Ella ging durch das Tor über den gepflasterten Hof auf eine Tafel zu, die mit

Weitere Kostenlose Bücher