Nukleus
Taxis, Motorbikes und Limousinen rund um die U-Bahn-Station Hyde Park Corner hinter sich gelassen hatte und auf den Belgrave Square zuging.
Es regnete, ein feiner Nieselregen, den man nicht sehen konnte und kaum spürte. Er ließ alles glänzender wirken, intensiver hervortreten, Ampeln, Rücklichter von Autos, das Gelb der Rettungswagen und die blauen Blitze auf den Dächern der Streifenwagen vor dem Eingang der Botschaft. In der Luft hing wieder das Brummen der Helikopter, das Ella schon gestern wahrgenommen hatte. Auch die unerlässlichen Sirenen von Polizeiwagen oder Ambulanzen stiegen in regelmäßigen Abständen aus den Straßen auf.
Zuerst war es bloß eine Ahnung: das Vibrieren hinter dem Zwerch fell, das Ella schon kannte. Sie konnte nichts sehen, nur die Polizei beamten in ihren Regenjacken, die etwas abschirmten, und die Schaulustigen, die sich vor der Absperrung drängten. Es war der Anblick der kleinen Menschenmenge, der Rücken und Köpfe im Regen, der ihr sagte: Da ist was passiert, etwas, das mit dir zu tun hat. Das geschehen ist, weil du hier bist. Ella verlangsamte ihre Schritte.
Als sie nah genug war, entdeckte sie die Kreidezeichnung auf dem Fußweg und die große bräunliche Lache, ochsenblutrot, unter dem glitzernden Nässefilm. Die Kreidezeichnung erinnerte an das laufende Männchen an den Berliner Fußgängerampeln. Ella sah, wie einige der Passanten und zwei Polizisten den Kopf in den Nacken legten und mit der Hand auf das Botschaftsgebäude deuteten. Sie blickte in die Richtung und bemerkte das offen stehende Fenster im dritten Stock.
»Was ist passiert?«, fragte sie einen der Schaulustigen.
»Das ist einer aus dem Fenster gesprungen«, sagte der Mann.
»Weiß man, wer?«
»Nehm ich doch an.«
»Jemand vom Botschaftspersonal?«
Der Mann zuckte mit den Schultern. »Das müssen Sie die Polizei fragen.«
Ella bedankte sich und ging um die Menschentraube herum. Der Regen wurde stärker, aber es lag nicht daran, dass ihr plötzlich so kalt war. Sie näherte sich einem der Polizeibeamten. »Wissen Sie, wer der Mann war?«, fragte sie den Polizisten. Der Polizist reagierte nicht. Sie blickte an ihm vorbei in den Rettungswagen, dessen Türen offen stan den. Sie konnte eine zugedeckte Gestalt auf der Trage sehen. »War es jemand aus der Botschaft?«, fragte sie den Polizisten. »Ist er tot?«
Jetzt wandte der Polizist ihr das Gesicht zu. Es war ein junges Gesicht, das kein Gefühl zeigte; nur die flachen Augen mit dem Bis-hierher-und-nicht-weiter-Ausdruck. »Warum?«, fragte er.
»Ich bin mit einem Mann in der Botschaft verabredet«, sagte sie. »Markus Wagenbach. War das Markus Wagenbach?«
Die Miene des Polizisten veränderte sich. Er sprach etwas in ein Mikro, das an seiner Schulter angebracht war, mit unverständlichem Cockney-Akzent, und die Antwort, die knisternd und knackend aus dem kleinen Apparat zurückkam, war genauso unverständlich, bis auf die Worte »DI Cassidy« und »Whitechapel«.
»Was hat er gesagt?«, fragte Ella. Der Polizist sah sie an und sagte, jetzt in verständlichem Englisch: »Würden Sie bitte mitkommen?«
»Wohin? Zu DI Cassidy?«
Der Polizist berührte ihren Arm und deutete auf eine Gruppe von Männern in Anzügen, die am Eingang der Botschaft standen. Sie hatten ihre Unterhaltung unterbrochen und sahen jetzt zu ihr und dem Polizisten herüber. Der Polizist bahnte ihr einen Weg durch die Leute, die nicht weitergehen wollten. Ihr Handy klingelte. »Ist DI Cassidy hier?«, fragte sie, während sie im Gehen die Handtasche öffnete. Das Display ihres Handys sagte: Anrufer unbekannt.
Der Polizist antwortete nicht. Die Männer in den Anzügen sahen ihr weiter schweigend entgegen. Sie holte das Handy heraus und meldete sich. »Ella Bach.«
»Sprechen Sie nicht mit der Polizei«, sagte eine Männerstimme auf Englisch.
»Pardon?«
»Kein Wort zur Polizei!«
»Wer ist denn da?«
»Haben Sie mit Wagenbach geredet?«
»Ja.«
»Was hat er Ihnen gesagt?«
»Warum wollen Sie das wissen?«
»Was immer er Ihnen gesagt hat, erzählen Sie nichts davon der Polizei.«
Sie blieb stehen. »DI Cassidy? Patrick? Sind Sie das?«
Der Polizist blieb ebenfalls stehen. Er legte ihr die Hand auf den Unterarm und beobachtete ihr Gesicht aufmerksam, dann sah er zu den Männern in den Anzügen hinüber.
Die Stimme am anderen Ende der Leitung sagte: »Wenn Sie am Leben bleiben wollen, reden Sie nicht mit der Polizei, reden Sie mit überhaupt niemand, und verlassen Sie
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