Nukleus
geschehen war, konnte sie nicht verhindern, dass sie Mitleid verspürte.
Zu diesem Eintrag gab es keine User-Kommentare, nur noch Fetzen eines Chats, der kurz davor stattgefunden haben musste. Einer der Teilnehmer mit Namen Gabriel schrieb: Du wirst dich gleich viel besser fühlen, weil es deinem tiefsten innersten Wunsch entspricht. Oder nicht?
Samariter: Doch. Aber sie sind unschuldig.
Gabriel: Zu töten, wenn die Zeit dafür gekommen ist, gehört zu den anständigsten Dingen, die ein Mann auf Erden vollbringen kann. Du wirst dadurch so unschuldig wie sie.
Frodo: Es ist ein heiliger Akt. Ohne den Vorgang des Tötens kann die Welt nicht überleben. Wie sollen die, die füreinander bestimmt sind, sich denn finden, wenn ihnen so viele im Weg stehen?
Edvard: Jemand, der die Fähigkeit besitzt, in angemessenem Umfang und aus dem richtigen Anlass zu töten, trägt dazu bei, die Gesellschaft der Menschen zusammenzuhalten und zu beschützen.
Frodo: Er bringt ein Opfer, das nur die Tapfersten zu bringen vermögen, denn es verlangt von ihm, sich dem Wohl des Ganzen zu unterwerfen.
Gabriel: Du tust es für uns alle, für unser Seelenheil.
Samariter: Aber sie sind unschuldig.
Edvard: Unschuld ist relativ. Eine Tat nicht.
Mehr enthielt die Datei nicht. Was waren das für Freunde?, dachte Ella; sie hatten verschiedene Namen, aber sie sprachen alle mit einer Stimme. Krankes Zeug, dachte sie. Sie wollte das Postfach gerade schließen, als sie einen weiteren Eingang entdeckte, ohne Betreff, von einem Absender, den sie nicht kannte. Das könnte dich auch interessieren, schrieb jemand mit dem Namen Desert Son: Schau auf deine LifeBook-Seite.
Während sie darauf wartete, dass ihre Seite sich aufbaute, merkte sie, dass sie Hunger hatte. Der pelzige Geschmack in ihrem Mund war auch nach dem Zähneputzen nicht verschwunden, und sie hatte Verlangen nach einem starken Kaffee. Sie ging in die Küche, die noch so aussah, wie sie wahrscheinlich in der Küchenabteilung des Möbelhauses gestanden hatte; sie roch sogar noch neu.
Desert Son hatte auf ihrer LifeBook-Seite einen Filmclip geposted, der von jemandem namens Fallen Angel ins Internet gestellt worden war, und als sie den Film startete, stockte ihr für einen Moment der Atem: F all en A ngel war Oskar Scharnhorst, den sie tot in der U-Bahn-Station Hermannplatz liegen gesehen hatte.
In Militäruniform saß er in einem Zelt an einem Feldtisch, auf dem sein Computer mit der Kamera stand. Der Raum hinter ihm war in Dunkelheit getaucht, als wäre er mit einem schwarzen Vorhang ver hängt. Nur sein Gesicht leuchtete gelblich grün. Er sah in die Kamera. Er schwitzte. Seine Hände lagen vor ihm; eine schien die andere festzuhalten.
»Sie sagten, es wäre ein Gefecht gewesen, das außer Kontrolle geraten war«, begann er. »Ein Gefecht mit Leuten, die in ihren Hütten geschlafen hatten. Ein Gefecht bei Nacht – mit zwanzig unbewaffneten Zivilisten, Männer, Frauen, sogar Kinder. Es gab eine Untersuchung, die immer noch nicht abgeschlossen ist. Einer der drei, ein Unteroffizier, kam zu mir, um zu beichten. Wir waren nicht in einem Beichtstuhl, wir waren in der Wüste. Der Himmel hatte eine schwefelgelbe Farbe, und ein kalter Wind blies, sodass wir beide zitterten.«
Er sprach leise, fast tonlos. »Ich musste an Jesus denken, der in die Wüste gegangen war, um zu fasten, und dort vom Teufel versucht wurde. Hier konnte ich Jesus nirgendwo sehen, aber der Teufel war allgegenwärtig. Er hielt sich auch nicht damit auf, die Menschen zu versuchen . Er jagte in Düsenjets über uns hinweg, so tief, dass der Druck und das Kreischen der Turbinen unsere Zähne, die Rippen und die Augen in den Höhlen erbeben ließ und das Herz zu zerreißen schien. Er stieg aus der aufgerissenen Erde, den zerfetzten Körpern, den sengenden Flammen und dem schwarzen Qualm explodierter Diesellaster. Er legte Bodenminen und ließ Raketen und Granaten aus den Bergen heranpfeifen. Er band Männern und jungen Frauen Sprengstoffgürtel um die Brust. Er flüsterte in die Ohren der Heckenschützen. Aber Jesus war nirgendwo zu sehen.«
Unter seinem linken Auge zuckte unaufhörlich ein kleiner Muskel. »Wir saßen auf einem Hügel, und der Unteroffizier redete, und in unserem Rücken, ich schwöre, in unserem Rücken gingen die Män ner von Haus zu Haus, um die Männer und die Frauen und die Kinder zu töten. Wir drehten uns nicht um, wir hörten nur den Wind und die knirschenden Schritte und die Stiefel, unter deren
Weitere Kostenlose Bücher