Nukleus
wo Sie hingehen! Versuchen Sie nicht, wegzulaufen, ich finde Sie überall, das wissen Sie!«
4 6
In der Sondersendung der BBC World News zeigten sie zuerst die Mütter. Sie zeigten sie, wie sie mit ihren Babys im Arm aus Taxis sprangen und auf die Portale der Kliniken zuliefen. Auf Sky lief immer noch der Werbespot für Babynahrung, und auf Channel4 konnte man mehrere tote Kinder auf weißen Sektionstischen sehen. Wieder ein anderer Sender zeigte in endloser Wiederholung die Aufnahmen, die der Täter gemacht hatte, einschließlich der seines Selbstmordes, Copyright by YouTube. Dazwischen rasten immer wieder die gelben Rettungswagen mit ihren trillernden Sirenen durch die Straßen Londons, Birminghams und Liverpools.
Ella ordnete die Bilder, brachte sie in eine Reihenfolge. Zuerst der Werbespot für Babynahrung: ein gesundes, glücklich glucksendes Kleinkind im Arm seiner Mutter, die es Löffelchen für Löffelchen mit Brei aus einem bunten Glas der Marke Baby’s Manna fütterte. Dabei schaute das Baby mit großen Augen seine Mutter an, deren lächelndes Gesicht dicht über seinem Köpfchen schwebte. Zuletzt gab es eine Großaufnahme von dem Glas, auf dessen Etikett ein Baby strahlte, daneben der Kopf eines freundlichen älteren Herrn mit weißen Haaren.
Die nächsten Bilder waren in einem ganz anderen Stil gehalten, unruhig, grau, die Farben fast monochrom, aufgenommen vielleicht mit einer Handykamera. Sie zeigten das Gesicht eines Mannes, der erst auf den zweiten Blick dem freundlichen älteren Herrn auf dem Babynahrungsetikett glich. Er filmte sich, wie er durch einen großen, halbdunklen Raum ging, und dann filmte er den Raum selbst, offenbar ein Lager, denn man sah Regale über Regale, und in allen Fächern standen Gläser mit Baby’s Manna . Er legte das Handy in eins der Fächer und ließ es weiterfilmen, während er ein Glas aus dem Regal nahm. Er schraubte das Glas auf und hielt es vor das Objektiv der Kamera, sodass man deutlich sehen konnte, wie er aus einer Tüte, die er in der Jackentasche mitgebracht hatte, winzige Scherben und glitzernde Splitter in den Brei rührte, bevor er den Deckel wieder zuschraubte. Danach stellte er das Glas zurück an seinen Platz in dem Regal und wandte sich dem nächsten zu.
Anschließend sah man ein Homevideo, das vermutlich ein Vater gedreht hatte. Es zeigte, wie seine Frau dem Töchterchen Baby’s Manna zu essen gab und wie aus dem seligen Schmatzen des Babys auf einmal eine schmerzverzerrte Grimasse wurde, als aus dem kleinen Mund Blut quoll. Das Bild begann zu wackeln, und man konnte gerade noch die winzigen glitzernden Objekte in dem blutigen Brei erkennen und wie das Entsetzen vom Gesicht der Mutter Besitz ergriff.
Dann folgten die Aufnahmen der Rettungswagen, die ankamen oder abfuhren. Mütter, die weinend oder schreiend oder in stummer Panik durch Klinikgänge rannten. Bleiche Väter, die neben den Tragen herliefen, auf denen ihre Kinder in den OP gerollt wurden. Reporter, die den Frauen mit Kameras und Mikrofonen nachstellten; Ärzte, die mit ernsten Mienen in Kameras sprachen.
Die letzten Aufnahmen zeigten wieder den freundlichen älteren Mann, jetzt nicht mehr im Lager seiner Firma, sondern in einem holzgetäfelten Büro an einem Schreibtisch. Es war Abend oder Nacht, nur die Lampe auf dem Tisch brannte. Ihr Licht fiel auf die Hände des Mannes, die ein großes Glas Baby’s Manna und einen Silberlöffel hielten. Ein paar Sekunden geschah gar nichts, bis sich der Mann jählings aus dem Schatten hinter dem Lichtkegel vorbeugte, das Glas aufschraubte, den Löffel hineintauchte und den Inhalt zu essen begann. Es dauerte nicht lang, dann verzerrte sich sein Gesicht. Die Muskeln und Sehnen des Halses traten hervor. Blutiger Schleim quoll aus seinem Mund und troff über das Kinn auf seine Eton-Krawatte. Zuckend bäumte er sich auf, warf sich in seinem Sessel hin und her wie ein Besessener und kippte schließlich nach vorn auf den Schreibtisch, wo er reglos auf der braunen Lederunterlage liegen blieb.
Ella sah die Bilder immer wieder. Sie sah das Blut aus den Mündern der Babys quellen; sie sah die Glasscherben; sie sah den Mann mit dem zerschnittenen Mund und den Clip von seinem Tod auf YouTube. Sie saß in Patrick Cassidys Wohnung, allein mit den Bildern, umgeben von den Gegenständen aus Annikas Büro und dem Mitschnitt von Annis letzter Therapiestunde, und zum ersten Mal seit über einem Jahr hatte sie das Gefühl, selbst den Verstand zu verlieren. Ich
Weitere Kostenlose Bücher