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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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muss hier raus, dachte sie. Ich verliere den Verstand, und diese Wohnung ist eine Falle, in der ich keine Luft mehr kriege. Wenn ich hierbleibe, sterbe ich.

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    Auf der anderen Seite der Straße entdeckte Ella einen hell erleuchteten Imbiss, nur zwei runde Aluminiumtische, fünf Gartenstühle mit gelben Kunststoffleinen als Lehne und Sitzfläche, ein wuchtiger Getränkeschrank und eine Glasvitrine voller Schüsseln: Falafel, Couscous, Humus, Oliven, gefüllte Auberginen unter Zellophan. Hinter der Vitrine blubberte eine Fritteuse für Fish ’n’ Chips. Sie bestellte sich eine Portion.
    Der ewige Regen draußen hatte aufgehört, aber es war kalt geworden, und sie fror. Der Wind drückte gegen das große Fenster, auf das mit weißer Farbe die Preise gemalt waren. Ein Kofferradio spielte arabische Musik. Die weißgekachelten Wände wirkten wie ein Schallverstärker. Ella war der einzige Gast, allein mit dem Besitzer hinter dem Tresen. Sie behielt die Tür und die Straße vor der Tür im Auge.
    In der Ecke gegenüber vom Eingang war ein Fernsehapparat in die Wand gedübelt, der keine Bilder von den verletzten und toten Babys zeigte, sondern ein Fußballspiel. Das Gebrüll der Zuschauer klang wie eine ferne Brandung. Ella wunderte sich, dass es Leute gab, die jetzt keine Nachrichten sahen, aber sie war froh darüber. Der Besitzer mit der schmutzigen Schürze stellte ihr einen Pappteller hin, auf dem sich matschige Pommes frites und ein paar panierte Fischstückchen einen riesigen Klacks grünlicher Mayonnaise teilten.
    Sie stürzte sich auf die Pommes und verbrannte sich sofort die Zunge. Beim Schlucken kehrten die Halsschmerzen zurück, die sie fast vergessen hatte. Sie bestellte einen Pfefferminztee. Während sie aß, dachte sie an DI Cassidy und das, was sie heute Nachmittag gehört hatten, und sie dachte an die Bilder, und es waren ratlose Gedanken, die sich im Kreis drehten. Sie hatte ungefähr die Hälfte ihrer Portion Fish ’n’ Chips heruntergeschlungen, als ihr Handy summte. Das ist er, dachte sie, das ist Cassidy, der wissen will, warum ich nicht mehr bei ihm in der Wohnung bin.
    Aber es war nicht DI Cassidy. Es war Julian. »Ella?«
    »Julian!« Sie war überrascht, wie schnell ihr Herz plötzlich schlug. »Hast du schon davon gehört?«
    »Wovon gehört?«
    »Von dem Mann, der die Babys getötet hat? Hier sind alle Nachrichten voll davon. Es ist entsetzlich …«
    »Nein«, unterbrach Julian sie, »ich rufe an, weil ich …« Die Verbindung war voller Störgeräusche. »… und bist du noch in London?«
    »Ja.«
    »Hast du Annika gefunden?«
    »Nein. Ich … wir haben noch keine Spur von ihr.«
    »Wir? Ich verstehe dich sehr schlecht«, rief Julian. »Ich dachte, du wärst vielleicht schon wieder in Berlin und …« Die Störgeräusche wurden lauter. Dann: »Aber ich wollte dir …«
    Ella fiel ein, was Cassidy über ihr Handy gesagt hatte. »Julian, hör zu«, sagte sie schnell. »Kann ich dich vielleicht zurückrufen?«
    »Ich kann dich nicht verstehen. Was hast du gesagt? Wann kommst du wieder?«
    »Ich weiß noch nicht. In ein paar Tagen vielleicht.« In diesem Augenblick verspürte sie ein Bedürfnis nach vollkommener Ehrlichkeit; den Wunsch, jemand vertrauen zu können. Sie wünschte sich, etwas Eindeutiges zu tun, das Richtige, und sie dachte: Fang jetzt damit an, fang bei Julian an.
    Er kam ihr zuvor.
    »Ella, ich muss dir etwas sagen.« Einen Moment war es still in der Leitung. »Es tut mir leid, wie wir in Berlin auseinandergegangen sind.« Jetzt klang seine Stimme klar und nah, als läge nicht der ganze Ärmelkanal zwischen ihnen. »Und ich hätte dich nicht allein nach London fliegen lassen sollen. Ich habe Angst um dich …«
    »Mir tut es auch leid«, sagte Ella. Sie schwieg einen Moment, ehe sie fortfuhr. »Weißt du, ich habe immer Angst, nur als provisorische Zuflucht betrachtet zu werden. Als das kleinere Leben, das man aufgibt, wenn sich die Chance auf etwas Bedeutsameres ergibt. Etwas, in das man dann richtig investiert, weil es lohnendere Rendite verspricht. Aber wenn ich etwas mehr nachgedacht hätte, über dich und was dir fehlt …«
    »Mir fehlt ja gar nichts«, unterbrach er sie. »Ich habe bloß das Dümmste gemacht, was man in so einer …«
    »Wir haben uns beide ziemlich blöd angestellt«, sagte sie.
    »Ich liebe dich, Ella«, sagte er. »Deswegen rufe ich an.«
    Ich liebe dich doch auch, dachte Ella. Sie spürte, wie ein heftiges Verlangen in ihr aufstieg, sich in ihren

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