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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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Raumkapseln an ihren Ringscharnieren außerhalb des Rads herab und stiegen wieder auf, ohne anzuhalten. Im Fahren öffnete das uniformierte Personal auf der Plattform die Türen und trieb die eine Gruppe Passagiere heraus und die andere hinein, bevor sie die Tür wieder verriegelten.
    Cassidy zeigte seinen hoch erhobenen Ausweis zum zweiten Mal, dem Kontrolleur und den wartenden Passagieren. »Nur die beiden hier und ich!«, verkündete er, als die nächste leere Gondel auf Plattformhöhe eintraf. Dabei flog sein Blick über die Köpfe hinunter zur Rampe, aber niemand schien ihnen zu folgen. Er stieß Gershenson in die Kapsel und zog Ella hinter sich her. Dann wurde die Tür geschlossen, und sie waren allein und schwebten langsam in die luftige Höhe.
    Über der City auf der anderen Seite des Flusses hingen rostfarbene Wolken. Die Gondel stieg aus dem Dunst auf dem Fluss und weiter über die Häuser, und plötzlich flirrte die Stadt am anderen Ufer unter ihnen wie ein Gemälde aus Neon und fließendem Strom. Der Anblick erinnerte Ella an eine Computertomographie – als blicke sie in den geöffneten Schädel der Stadt, auf ihr nacktes Gehirn mit seinen glü henden Nerven, den lautlosen elektrischen Entladungen, den weißen, blauen, gelben und roten Leuchtströmen und pulsierenden Flecken, den hellen Flächen neben dunklen Zellen, dem Feuerwerk unablässig hin und her schießender Gedankenimpulse.
    Sie standen in der großen, nur schwach erhellten Glaskapsel und sahen auf das Breitwand-Panorama hinab, während der Himmel die Kuppel über ihren Köpfen wie schwarzer Samt zu bedecken schien. Der Professor hielt sich etwas abseits, auf der anderen Seite der Bank in der Mitte. Zwischen seinen Beinen, unter dem Burberry, konnte Ella am Ufer des dunklen Flusses den Westminster Palace sehen mit dem angestrahlten Glockenturm und dahinter das Dach der Abbey. Aber sie hatte keine Geduld, keinen Sinn für die Schönheit des Anblicks. »Haben Sie die E-Mails mit den Namen der Kliniken bekommen?«, fragte sie. »Hat Annika eine von ihnen schon einmal erwähnt? Wir haben noch eine gefunden, die Mills Clinic in Wandsworth. Sagt Ihnen das was? Wir sind ganz sicher, dass sie vor einer Woche in …«
    »Halt«, rief Cassidy. »Stopp! Warten Sie noch!« Mit großen Schritten ging er von einer Seite der Gondel zur anderen, blickte nach unten, nach oben, rechts und links, zu den Glaskapseln unter ihnen und denen oben, alle genauso schwach beleuchtet, aber viel voller, in jeder mehr als zwanzig Passagiere. Er betrachtete sie genau; durch ein Gewirr von Verstrebungen und Haltevorrichtungen hielt er Ausschau nach jemandem, der sich mehr für sie interessierte als für die Aussicht. Der in der nächsten, gut zehn Meter entfernten Gondel etwas in ihre Richtung hielt, Fotos von ihnen machte statt von den Lichtern der Stadt, dem Fluss, den Brücken. Schließlich sagte er: »Okay, Professor, sprechen Sie!«
    Gershenson blieb auf seiner Seite der Bank, wich Cassidy genauso aus wie Ella. Er hatte die Hände in die Burberry-Taschen geschoben, und jetzt schüttelte er den Kopf, nicht abwehrend, sondern ratlos, als hätte er kürzlich etwas erfahren, das sein ganzes Weltbild ins Wanken brachte. »Die Mills Clinic, sagen Sie? Wie kommen Sie darauf?«
    »Wir haben herausgefunden, dass man dort vor knapp einer Woche eine Frau in Annis Alter nach einem Suizidversuch aufgenommen hat«, erklärte Ella, »und wir, DI Cassidy und ich, glauben, dass Annika diese Frau ist. Können Sie uns sagen, ob sie Ihnen gegenüber …«
    »Gleich«, Gershenson hob kurz die linke Hand, zog mit der anderen ein Handy aus der Manteltasche und wollte es gerade in Betrieb nehmen, als Cassidy ihn scharf anfuhr: »Nein, nicht gleich – jetzt! Weg mit dem Handy! Sie reden mit uns, nicht am Telefon!«
    Der Professor schob das Handy wieder in die Tasche. »Ganz wie Sie wollen«, sagte er gleichmütig. »Diese Fahrt dauert dreißig Minuten, wir haben also Zeit genug. Deswegen habe ich das Eye als Treffpunkt gewählt. Mein Ziehsohn Oliver ist in dieses Riesenrad geradezu vernarrt. Es war damals noch ganz neu, und er konnte es stundenlang anstarren, besonders am Abend, wenn der Himmel allmählich dunkel wurde und die Lichter angingen. Er stand da unten auf der Promenade oder auf der Brücke und sah zu, wie es sich drehte. Am Anfang habe ich überhaupt nicht verstanden, was ihn daran so faszinierte. Es hatte etwas Autistisches. Und wenn er mitfahren durfte, wenn er in einer der Gondeln

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