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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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»Bestimmt erwartet uns da ein ganz schickes Loft«, meinte Hagen aufmunternd, und ein paar Sekunden hatte Ella das Gefühl, ein Déjà-vu zu erleben. Ihr Rückenmark wurde zu Eis. Bitte, keine Toten da oben, dachte sie, bitte diesmal kein Blut, keine sterbende, gefolterte Frau; kein zerfetztes Fleisch, bitte. Aber es war ja anders als letzten Sommer. Diesmal war sie nicht allein.
    Hagen ging weiter, tastete nach dem nächsten Lichtschalter. »Und Gott sprach …« Es wurde Licht, und die beiden tapferen jungen Feuerwehrmänner folgten ihm in ihren sauberen blauen Uniformen, bewaffnet mit Äxten und Schließwerkzeug. Ella trug den Defi, und Sascha bildete die Nachhut mit dem großen Notfallkoffer. Aus den Wohnungen, an denen sie vorbeistiegen, drangen Küchengeräusche, Musik, Kindergeschrei, die streitenden Stimmen von zwei Frauen und einem Mann; irgendwo brummte ein Staubsauger.
    Die Treppenbeleuchtung erlosch wieder, aber jetzt waren sie im vierten Stock, und durch ein schmales Fenster fiel das letzte Tageslicht herein. Auch hier fehlte Namen an den Türen, die Klingelschilder waren unbeschriftet. Nur an die eisenverstärkte Tür der Wohnung links vom Treppenabsatz war mit weißer Kreide über das oberste der drei Schlösser ein Kreuz gemalt worden. »Das müsste sie sein«, sagte Ella und drückte den Klingelknopf.
    Nichts geschah. Niemand öffnete, kein Summer ertönte, nur das gedämpfte Geräusch der Klingel.
    Ella drückte noch einmal, dann klopfte sie. »Hallo? Herr Kornack? Sind Sie da? Rettungsdienst, öffnen Sie bitte!« Sie lehnte sich gegen den Türknopf, der nicht nachgab. Sie sah Hagen an. Sie sah Sascha an. Sie sah die Feuerwehrleute an.
    Hagen hämmerte mit der Faust gegen die Tür und rief: »Aufmachen! Polizei!«
    Sie lauschten mit angehaltenem Atem. Keine Reaktion. Ella spürte, wie ihr Herzschlag schneller schlug, härter.
    Hagen nickte den Feuerwehrmännern zu. »Ihr seid dran.« Wortlos beugte der kleinere der beiden sich zu dem ersten der drei Schlösser hinunter und setzte ein Werkzeug an, das halb Bohrer und halb Zange zu sein schien. In diesem Moment erklang ein leises Schnappen. Überrascht drückte der Feuerwehrmann die Klinke, und die Tür gab nach.
    »Wenn wir drin sind, halten Sie sich zurück«, sagte Ella zu Hagen. »Keine heftigen Bewegungen, nichts, was ihn erschrecken oder verstören könnte. Wir wissen nicht, in welcher Verfassung er ist.«
    Hagen rieb sich die Stirn mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand und seufzte. Er benutzte einen Fuß, um die Tür aufzustoßen; die rechte Hand war unter seinem Sakko verschwunden. Ein Scharnier quietschte, kurz bevor die Tür gegen die Wand schlug. Im Raum dahinter herrschte Zwielicht. Ein kühler Lufthauch schlug ihnen entgegen, vermischt mit einem süßlichen Geruch nach erhitztem Metall. Hagen bedeutete Ella mit einem Kopfnicken, ihm über die Schwelle zu folgen. Mit den Augen dirigierte er sie in die Wohnung hinein. Er bewegte lautlos die Lippen, formte die Worte: Sagen Sie was.
    »Herr Kornack«, rief Ella. »Ella Bach. Sind Sie da?« Schweigen. Kein Laut. »Sie haben mich angerufen. Sie wollten, dass ich zu Ihnen komme.«
    Nur ein leises Zischen begleitete die Stille, sonst nichts.
    Ein langer, schmaler Korridor führte von der leeren Diele in die Wohnung hinein und verlor sich im Dunkel. Rechts und links gingen Zimmer ab, vier Türen, eine davon geschlossen, die anderen angelehnt oder offen. Unter den Dachschrägen hatten keine Möbel Platz gefunden, nur ein Gummibaum mit bräunlichen Flecken auf den Blättern ragte zu einer Fensterluke auf. Die verdreckte Glasscheibe verschluckte das Licht. Ein farblos getretener Läufer warf zerfaserte Wellen, über die man stolpern konnte, wenn man nicht aufpasste.
    Ella hielt Ausschau nach Lampen, an der Decke, an den Wänden. Sie entdeckte keine, auch keinen Lichtschalter. »Herr Kornack?« Sie ging weiter, achtete auf die Wellen im Läufer. Sascha folgte ihr, aber Hagen und die Feuerwehrmänner blieben zurück. Sie versuchte, das Zischen zu lokalisieren. Es drang aus einer der halb offenen Türen, ein stetiger Laut an der Grenze zur Unhörbarkeit. Der Geruch nach erhitztem Metall wurde stärker. Vorsichtig näherte Ella sich der Tür und schaute in den Raum dahinter.
    Zuerst sah sie nur den rotglühenden Eisenring in der Dunkelheit. Danach nahm sie den ganzen Herd wahr, alt, rußgeschwärzt. Die Gasflammen – das Zischen – brannten, aber es stand nichts auf den Herdplatten, kein Topf,

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