Nukleus
Innenseite.
Ella fröstelte plötzlich, als ihr ein weiterer Gedanke kam. »Das Foto«, sagte sie. »Könnte das Foto von mir dazu gedient haben, den Drahtziehern zu zeigen, wie ich aussehe? Für den Fall, dass er es nicht schafft, mich zu töten?«
Wo bin ich da bloß reingeraten, dachte sie. Und Anni – war es das, wovor sie mich die ganze Zeit warnen wollte? Und dann dachte sie: Was hat meine beste Freundin mit diesem Bild zu tun, das, mit Blut gemalt, Wahnsinn und grausame Tode zeigt?
»Soll ich Sie nach Hause fahren?«
Ella schreckte aus ihren Gedanken auf. Sie sah Abdallah an, als müsste sie sich in Erinnerung rufen, wer er war. Dann nickte sie stumm.
1 9
Die Stationstür ging auf, und ein Chirurg im blauen Kittel erschien am Ende des Korridors, noch mit der OP-Mütze auf dem Kopf. Erst als er nah genug war und im Gehen die Mütze abstreifte, erkannte Ella, dass es Julian war. Er blieb vor ihr stehen und sagte: »Ich habe gehört, was dir passiert ist. Wie fühlst du dich?«
»Mir geht es gut«, sagte sie trotzig. »Shirin ist es, der es schlecht geht.«
»Ja, ich habe am Nachmittag noch einmal nach ihr gesehen.« Julian rieb sich die Augen, die danach noch müder aussahen als vorher. »Wir können nicht viel mehr tun als hoffen.«
»Hoffen hat eine große Zukunft«, sagte Ella. »Sie sah zu ihm auf, und auf einmal wünschte sie, es hätte die letzte Nacht nicht gegeben, oder er hätte ihr nichts erzählt. Sie wollte, dass jemand sie in den Arm nahm, ihr übers Haar strich. Sie tröstete. Das Entsetzen von ihr nahm. Sie spürte ein plötzliches Begehren, das ihr unpassend vorkam.
Er blinzelte, als hätte er ihre Gedanken lesen können, aber es war nur die Müdigkeit. »Julian«, sagte sie, fast zärtlich. »Hast du heute Nacht überhaupt geschlafen?«
»Nicht besonders gut«, gab er zu. »Ich habe wohl zu viel gegrübelt, nachdem ich von dir weg war. Erst irgendwann gegen Morgen …« Er seufzte, und ihr Wunsch, er möge sie in den Arm nehmen, wurde stärker. Warum legst du nicht deinen Mund auf meinen Scheitel wie sonst?, dachte sie. Aber ihre Sehnsucht nach seiner Berührung, seinem Trost schien ihr in diesem Moment leichtfertig, nach gestern Nacht, als wollte sie ihn zu einem Versprechen nötigen, das er nicht einhalten konnte.
»Was ist denn dabei rausgekommen?«, fragte sie. »Beim Grübeln?«
Er streifte Abdallah mit einem Seitenblick, schien dann aber anzunehmen, dass er kein Deutsch verstand. »Dass du recht hattest. Wenn ich etwas nicht aufschneiden und herausnehmen kann, tue ich so, als wäre es nicht da. Bis es von selbst herauskommt.«
»So wie gestern Nacht.« Sie stand auf und ging ein paar Schritte, weg von dem Kommissar. Sie wartete, bis Julian ihr gefolgt war. »Darf ich dich etwas fragen?«
»Natürlich, was denn?«
»Es geht um diese Samantha …«
»Wenn es sein muss.« Er verzog das Gesicht, kaum dass man es sah, aber sie sah es.
Sofort versteifte sie sich. »Nein, es muss nicht sein.«
Er nickte erleichtert, auch kaum sichtbar, und das sah sie ebenfalls. Es gab einen Ruck unter ihren Füßen, als könnte sie eine Sekunde lang spüren, wie die Erde sich drehte; wie sie weiterging, über ihre Gefühle hinweg. »Zweifelst du eigentlich manchmal daran, ein Herz zu haben?«, fragte sie.
»Wie bitte? Was?«
»Ein Herz«, sagte sie.
»Natürlich«, entfuhr es ihm überrascht. »Was sonst?«
»Negativer Raum«, sagte sie, »der schlägt.«
Er runzelte die Stirn, nahm einen neuen Anlauf. »Soll ich mir das mal ansehen?«, fragte er mit einem Blick auf das Pflaster über ihrer linken Schläfe.
»Nein, ich bin bestens versorgt worden. Aber vielen Dank.«
»Auf alle Fälle müssen wir ein CT machen. Du siehst schlecht aus.«
»Ich sehe schlecht aus, weil vor meinen Augen ein Mensch umge bracht worden ist«, sagte Ella. »Kommissar Hagen ist an meiner Stelle gestorben, und danach hat der Mörder sich selbst abgefackelt, ebenfalls vor meinen Augen. Deswegen sehe ich schlecht aus, aber verglichen mit den beiden geht es mir glänzend.«
Hilflos breitete Julian die Arme aus, die OP-Kappe in der linken Hand. »Ich versuche, freundlich zu sein, Ella.«
»Ich habe dich nicht darum gebeten«, sagte sie heftiger als beabsichtigt.
»Mit Sam habe ich heute Morgen Schluss gemacht. Es war ein Fehler, dass ich letzte Nacht im Streit von dir weggegangen bin …«
»Du bist nicht gegangen, ich habe dich rausgeschmissen«, sagte sie.
»Aber wenn du mir nochmal …«
»Nicht so
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