Null-Null-Siebzig: Agent an Bord: Kriminalroman (German Edition)
keine Kapelle, mein Einsatzgebiet ist das ganze Schiff. Hier habe ich viel mehr als in einer Gemeinde auf dem Festland die Chance, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, Seelsorge zu machen. Und das ist es, was mich an dieser Arbeit auf dem Schiff fasziniert. Sie haben hier das ganze Panorama des Lebens, komprimiert auf einem Schiff. Es gibt Hochzeiten, Geburten und Todesfälle ...«
»Geburten?«, wunderte James sich. »Der Altersdurchschnitt hier an Bord dürfte jenseits der sechzig liegen.«
»Nun gut«, räumte Joseph Sutcliffe ein. »Todesfälle sind in der Tat häufiger. Es wird nicht an die große Glocke gehängt, aber es ist gar nicht so selten, dass ein Passagier erkrankt und das Ende der Reise nicht mehr erlebt.«
»Gibt es keinen Arzt an Bord?«
»Doch, selbstverständlich, und es gibt eine Praxis mit den neuesten technischen Geräten. Dr. de Koning operiert sogar, wenn es sein muss. Aber wie Sie schon ganz richtig feststellten, es sind einige hochbetagte Menschen an Bord.«
»Was geschieht mit den Leichen?«
»Das hängt davon ab, wo wir uns gerade befinden und wo der Verstorbene seine letzte Ruhestätte finden soll. Manche gehen im nächsten Hafen an Land und werden per Flugzeug nach Hause transportiert, manche bleiben noch etwas länger an Bord, bis wir wieder in den heimatlichen Hafen einlaufen. Es gibt übrigens extra für diesen Zweck Kühlfächer.«
»Wie ist es mit Seebestattung? Das wäre doch praktisch, nicht wahr?«
Der Geistliche schüttelte den Kopf. »Wo denken Sie hin. Nein, Seebestattungen kommen nicht infrage. Eine Kreuzfahrt soll nicht mit Beerdigungen assoziiert werden. Es sind Luxusliner, Vergnügen und Erholung stehen an erster Stelle. Ich darf noch nicht einmal eine Trauerfeier abhalten. Die gute Laune der Feriengäste soll nicht getrübt werden.«
»Trauer bei den Hinterbliebenen wird sich kaum vermeiden lassen, auch ohne Trauerfeier und Bestattung.«
»Dafür bin ich ja da.« Pfarrer Sutcliffe senkte die Stimme, obwohl weit und breit niemand zu sehen war. »Ich verrate Ihnen jetzt ein Geheimnis, Mr Gerald, der Kapitän hat es mir selbst gesagt, als er einmal zu tief ins Glas geschaut hatte. Die Reederei würde sich keinen Geistlichen leisten nur für die Handvoll Leute, die sich zur Gottesdienstzeit in den Pub verirren. Nein, der eigentliche Grund, warum ich hier bin, ist die Schadensbegrenzung, wenn jemand stirbt. Ich bin der Seelsorger, der die Menschen im Fall des Todes eines Angehörigen tröstet, ihnen beisteht ...«
»... und die dunklen Wolken von Tod und Trauer von anderen Reisenden fernhält«, vervollständigte James.
Joseph Sutcliffe nickte. »Ach, Mr Gerald, ich mache mir keine Illusionen über meinen Auftrag hier an Bord. Aber ich kann damit leben.«
Sehr gut sogar, dachte James amüsiert. Die reichhaltige Buffetkost hatte ihre Spuren hinterlassen. »Abgesehen von Ihrem Morgengottesdienst und dem seelsorgerischen Beistand im Todesfall können Sie die Reise aber auch ein wenig genießen, nehme ich an?«, fragte James.
»Ja und nein«, sagte Joseph Sutcliffe und fuhr sich nachdenklich über seine linke Augenbraue. »Wissen Sie, meinen Job legt man nicht nach der Messfeier ab oder wenn man das Pensionsalter erreicht hat. Seelsorger bleibt man in jeder Situation, in jeder Umgebung. Hier auf dem Schiff ist es besonders leicht, die meisten Menschen sind offener, zugänglicher, und man kann sich einfach mal zu ihnen setzen.« Er machte eine weit ausholende Armbewegung. »Sehen Sie, ich habe ja nicht nur die Reederei als Auftraggeber. Es gibt da noch einen, und der hat mich hierher geschickt. Dieses Schiff ist jetzt mein Missionsgebiet. Ich sehe mich in der Nachfolge der Jünger Jesu. Ich bin ein Menschenfischer und werfe überall hier meine Netze aus.«
»Aha«, sagte James. »Wollen Sie damit sagen, ich bin heute der erste Fisch, der Ihnen ins Netz gegangen ist?«
Der Geistliche lachte. »Nein, keine Angst, Mr Gerald, wie gesagt, die halbe Stunde, bevor das Schiff erwacht, genieße ich immer für mich. Ich nehme mir einen Kaffee, sehe aufs Meer und halte Zwiesprache mit Gott. Aber wenn Sie etwas auf dem Herzen haben, Mr Gerald ...«
»Danke, nein.«
Joseph Sutcliffe erhob sich zu imposanter Größe und streckte die Hand aus. James wollte sie ergreifen, aber im nächsten Moment spürte er die Hand des Geistlichen auf seinem Kopf. »Ich segne Sie!«
James sah Joseph Sutcliffe nach, bis er im Aufzug verschwunden war. Bei einem Geistlichen hatte er
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