Null-Null-Siebzig: Agent an Bord: Kriminalroman (German Edition)
Fremden, und noch dazu so früh am Morgen. Er sah in das freundliche, offene Gesicht eines Mannes in mittleren Jahren. Der weiße Kragen über dem schwarzen Pulli wies ihn als Geistlichen aus.
»Entschuldigen Sie«, sagte der andere, »ich war unhöflich. Wenn jemand wie Sie frühmorgens einen Kaffee hier trinkt, dann bestimmt nicht, weil er auf Gesellschaft aus ist. Ich weiß das, weil ich normalerweise der Einzige hier bin und ebenfalls die Ruhe genieße. Es ist ein Geschenk, diese halbe Stunde, bevor das Schiff zum Leben erwacht. Wenn Sie dasselbe Gefühl in der Großstadt haben wollen, müssen Sie viel früher aufstehen.« Er lachte. »Aber auf der Victory gehen die Uhren eben langsamer. Es ist wie aufeiner Insel. Alle schlafen lang, keiner hetzt. Warum auch, es ist ja Urlaub.«
Schwer von Begriff war der Mann jedenfalls nicht. James war halbwegs besänftigt, verzog die Mundwinkel zu einem angedeuteten Lächeln und streckte dem Geistlichen die Hand entgegen. »James Gerald.«
»Joseph Sutcliffe«, stellte der Mann sich vor. »Ihre erste Kreuzfahrt, Mr Gerald?«
James nickte. »Und wohl auch meine letzte.«
Joseph Sutcliffe sah James betroffen an. »Ihre letzte ...?«
James lächelte. »Oh, nein, nein, es ist nicht das, was Sie denken. Diese Kreuzfahrt ist nicht die Erfüllung eines Lebenstraums, bevor ich sterbe. Ich meinte vielmehr, dass ich Kreuzfahrten nicht sonderlich mag.«
Joseph Sutcliffe setzte sich. »Warum sind Sie dann hier?«
»Cherchez la femme«, gab James zurück.
Der Geistliche lächelte. »Oft ist es die Ehefrau, die ihren Mann dazu überredet. Und glauben Sie mir, wahrscheinlich werden Sie ihr hinterher noch dankbar sein.«
»Nein, nicht meine Ehefrau«, sagte James.
»Aha?«, fragte Joseph Sutcliffe interessiert, aber James dachte nicht daran, das Gespräch noch persönlicher werden zu lassen.
»Sie sind nicht verheiratet?«, bohrte Joseph Sutcliffe weiter.
»Richtig.«
»Da haben wir beide außer unserer Vorliebe für das frühe Aufstehen noch etwas gemeinsam«, scherzte Joseph Sutcliffe.
Der Asiate brachte einen Kaffee und ein Croissant für den Geistlichen.
»Vielen Dank, Mr Hikikomori«, sagte Joseph Sutcliffe.
»Sehe ich eigentlich wie ein Chinese aus?«, fragte der Asiate ihn auf Japanisch.
»Natürlich nicht. Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte Joseph Sutcliffe auf Japanisch zurück. Der Kellner warf einen kurzen Seitenblick auf James. »Dieser Mann dachte, ich bin Chinese. Unerhört, oder?«
Joseph Sutcliffe lächelte in James’ Richtung. »Machen Sie sich nichts draus. Klarer Fall. Er ist eben wie die meisten hier eine ignorante Langnase.«
»War das gerade Japanisch?«, fragte James interessiert, als der Kellner wieder gegangen war.
»Ganz recht«, sagte Joseph Sutcliffe. »Der junge Mann hat mich um meine Meinung gebeten, ob er etwa wie ein Chinese aussehe. Sie haben ihn offenbar für einen gehalten.«
»Ist das so schlimm?«
»Es scheint ihn gekränkt zu haben.«
»Was haben Sie ihm geantwortet?«
Der Geistliche lächelte. »Dass das vermutlich an dem schlechten Licht hier lag. Das wird ihn besänftigt haben. Für den Fall, dass Sie morgen noch mal vorhaben, einen Kaffee bei ihm zu bestellen.«
James lächelte. »Woher können Sie eigentlich Japanisch?«
»Wissen Sie, wenn man so lange wie ich auf den Weltmeeren herumschippert, schnappt man die eine oder andere Redewendung auf. Wussten Sie beispielsweise, dass mehr als fünfzig Nationen an Bord der Victory sind? Die Gäste sind nicht ganz so multinational. In der Regel Europäer, hauptsächlich Briten, auch einige Amerikaner. Die anderen Nationen haben ihre eigenen Luxusliner.«
»Und Sie? Zählen Sie zu den Gästen oder zur Besatzung, wenn ich fragen darf?«
»Zur Besatzung. Wir beginnen jeden Tag um 9 Uhr mit einem ökumenischen Gottesdienst.«
»Es gibt eine Kapelle an Bord?« James war erstaunt. »Auf dem Übersichtsplan habe ich sie gar nicht gesehen.«
»Es gibt auch keine«, stellte Joseph Sutcliffe richtig. »Leider. Ursprünglich war eine geplant, aber dann fiel sie der Erweiterung des Spa-Bereichs zum Opfer. Den Gottesdienst feiern wir im Pub.«
»Ist er gut besucht?«
Der Pfarrer lächelte. »Sie haben ein sicheres Gespür für den wunden Punkt, Mr Gerald. Es wäre eine Lüge, wenn ich das behaupten würde. Zwischen Pool und Power-Yoga bleibt nicht mehr viel Zeit für den Rosenkranz.«
»Das muss enttäuschend für einen Geistlichen sein.«
Joseph Sutcliffe winkte ab. »Ich brauche
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